Zweite Kammer, erstklassig
Published in Die Welt (Berlin), 10 July 2007, p. 7 (PDF)
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Kann es das überhaupt geben? Ein Parlament, in dem die Abgeordneten gleichermaßen hoch qualifiziert wie erfahren sind? In dem sich die Mitglieder weniger darum kümmern, der Linie ihrer Partei zu folgen, sondern im Zweifelsfall ihrem Gewissen? In dem die Umgangsformen von so viel Höflichkeit geprägt sind, dass es keine Sitzungsleitung braucht? Was nach einem reichlich naiven Wunschbild eines Parlaments klingt, das gibt es wirklich. Die Sache hat nur einen kleinen Haken, denn die Mitglieder sind nicht gewählt.
Die Rede ist vom House of Lords, jener zweiten Kammer des britischen Parlaments, die zwar schon seit sieben Jahrhunderten besteht, von deren genauer Funktion aber selbst die meisten Briten keine Vorstellung haben. Das, was man in jüngster Zeit von den Lords in den Medien erfahren konnte, war darüber hinaus wenig schmeichelhaft. Von gekauften Lordtiteln war dort zu hören; auch von Mitgliedern, die sich dem britischen Fiskus durch einen Wohnsitz in Monaco entzogen haben, gleichwohl aber an der britischen Gesetzgebung mitwirken.
Über allem steht aber der grundsätzliche Zweifel, ob ein Parlament, dessen Mitglieder dort qua Geburtsrecht, auf Vorschlag des Premierministers oder als Bischöfe der anglikanischen Kirche Sitz und Stimme haben, noch zeitgemäß ist. So haben denn auch kürzlich die Unterhausabgeordneten mit deutlicher Mehrheit für eine vollständig gewählte zweite Kammer votiert. Ob es letztlich dazu kommen wird, ist fraglich, denn – Demokratiedefizit hin oder her – eines sprechen selbst die ärgsten Kritiker dem House of Lords nicht ab: Im Zusammenspiel mit dem gewählten House of Commons leistet es erstaunlich gute Arbeit.
Die Arbeitsteilung zwischen Lords und Commons mit ihren sehr unterschiedlichen Kulturen ist in den Houses of Parliament nicht zu übersehen. Das Unterhaus tagt auf grün gepolsterten Bänken in einer vergleichsweise schlichten holzgetäfelten Kammer. Der Atmosphäre nach könnte dies auch das Westminster Arms sein, und auch die Debatten im Unterhaus erinnern häufig an laute Streitgespräche in englischen Pubs.
Geht man hingegen von der Hauptlobby nach rechts ins House of Lords, so fühlt man sich schlagartig in eine andere Zeit zurückversetzt. Die Polsterung ist in Rot, der Farbe der britischen Monarchen, gehalten. Holzschnitzereien, Kronleuchter aus Messing und reichhaltige Goldverzierungen prägen das Bild.
So unterschiedlich die beiden Kammern aussehen, so verschieden sind ihre Aufgaben. Den politischen Vorrang genießt eindeutig das gewählte Unterhaus. Die überwiegende Mehrzahl der bedeutenden Gesetze wird zunächst hier eingebracht, die Commons haben das uneingeschränkte Sagen in der Finanzpolitik, und es ist üblich, dass das Oberhaus das jeweilige Regierungsprogramm, für das eine Partei gewählt wurde, nicht blockiert. Was den Lords verbleibt, sind vor allem zwei Funktionen: die Gesetzgebung zu überprüfen und ein Forum für politische Debatten jenseits der Tagespolitik zu sein.
Insofern wiegt das demokratische Defizit weniger schwer, als man es vielleicht zunächst vermuten würde. Um ein Gesetz effektiv auf handwerkliche Fehler untersuchen zu können, bedarf es eben weniger der Legitimation durch die Wähler, sondern vielmehr eines entsprechenden Sachverstands. Die übergroße Mehrzahl der Mitglieder des Oberhauses ist aufgrund ihrer jeweiligen Verdienste in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur auf Lebenszeit ernannt. Entsprechend alt sind sie daher bereits zum Zeitpunkt ihrer Berufung, sodass das Durchschnittsalter im Oberhaus bei 68 Jahren liegt.
Das hohe Alter der Mitglieder und die Tatsache, dass man sich als Lord nie einer Wiederwahl stellen muss, haben aber auch noch einen anderen Effekt. Die Lords dürfen sich nämlich eine Unabhängigkeit von ihren Parteien und Fraktionen erlauben, von der gewählte Abgeordnete oft nur träumen können. Das meint zumindest Celia Thomas, und sie muss es wissen. Erst im vergangenen Jahr wurde sie zur Baroness Celia Marjorie Thomas of Winchester, of Winchester in the County of Hampshire ernannt, aber zuvor hatte sie 30 Jahre lang in der Fraktionsgeschäftsführung der Liberaldemokraten gearbeitet.
Celia Thomas, die ihren vollen Titel viel zu kompliziert findet, als dass sie damit angeredet werden möchte, ist ein gutes Beispiel für das Selbstverständnis der Lords. “Als ich ernannt wurde, da bekam ich von vielen Freunden Gratulationsschreiben, in denen stand, dass ich es verdient hätte, nun im Oberhaus zu sitzen”, erzählt sie. “Aber diesen Sitz kann man sich nicht verdienen. Es ist auch keine Ehre, sondern vor allem eine Pflicht.” Einzig die älteren Lords hätten sie damals gewarnt, dass sie von nun an härter arbeiten müsste, als sie es sich jemals vorgestellt hätte. “Plötzlich wenden sich viele Bürger mit ihren Anliegen an mich”, berichtet Lady Celia.
Der Einsatz von Lady Celia ist beeindruckend, aber für die Lords durchaus nicht untypisch. Viele Lords und Baronesses nehmen ihre parlamentarischen Pflichten sehr ernst, und das, obwohl sie dabei wenig Unterstützung erhalten. Mitarbeiter gibt es kaum, und Lady Celia muss sich ihr kleines Büro mit zwölf weiteren Lords teilen. Die Aufwandsentschädigung von 79 Pfund und 50 Pence pro Sitzungstag, erhältlich nur bei tatsächlicher Anwesenheit, reicht gerade einmal, um die Kosten für Fachliteratur oder die Bewirtung von Gästen zu decken. Im Grunde genommen arbeiten die Lords quasi ehrenamtlich.
Umso erstaunlicher ist daher die Tätigkeitsstatistik der zweiten Kammer. Im vergangenen Jahr wurden an 134 Sitzungstagen 74 Gesetzgebungsverfahren durchgeführt, 181 Abstimmungen per Hammelsprung entschieden und 10 143 Änderungsanträge debattiert, von denen knapp ein Drittel angenommen wurde. Viele Vorlagen, die aus dem Unterhaus an die Lords überwiesen werden, sind noch so fehlerbehaftet, dass sie im Oberhaus gleich mehrere Hundert Mal abgeändert werden, bevor sie Gesetz werden.
Doch es ist nicht nur die schiere Kompetenz und Effizienz, die beeindrucken, sondern vor allem die Art des Diskurses, den die Lords untereinander pflegen. Die vornehme Atmosphäre strahlt direkt auf die Debatte aus. Persönliche Angriffe sind tabu, Meinungsverschiedenheiten werden in einer sprachlichen Zurückhaltung ausgetragen, an die sich frühere Unterhausabgeordnete erst gewöhnen müssen.
“Es ist wie eine große Familie, zu der Lords und Parlamentsmitarbeiter gleichermaßen gehören”, beschreibt Lady Celia, “man geht anständig miteinander um.” Doch zuweilen treibt dies skurrile Blüten, etwa wenn die Lords abends um halb elf, wenn eigentlich schon alles gesagt ist, plötzlich ausschweifend über das Wetter reden – ab viertel vor elf bekommen die Saaldiener nämlich die Taxifahrt nach Hause von der Verwaltung erstattet.
Das House of Lords ist nur die zweite Kammer, aber vor allem ein erstklassiges Parlament. Nur ist das jenseits der Mauern des Palastes von Westminster kaum bekannt, wo die Lords vor allem als undemokratischer Anachronismus gelten. Der Skandal um den angeblichen Verkauf von Mitgliedschaften an Parteispender schadete ihrem Ansehen ebenfalls. Dies hat dazu geführt, dass eine Reform des Oberhauses für notwendig gehalten wird, auch wenn es an überzeugenden Alternativen mangelt. Eine vollständig gewählte zweite Kammer würde zudem die Balance mit dem Unterhaus infrage stellen.
Doch ob es am Ende zur Auflösung des Oberhauses kommt, ist fraglich. Kampflos werden die Lords ihrer eigenen Abschaffung kaum zustimmen.
Der Autor lebt als Publizist und Politikberater in London. Er war Referent von Lord Matthew Oakeshott of Seagrove Bay im britischen Oberhaus.