Neoliberaler Mythos

Published in DIE WELT (Berlin), 18 July 2006 (PDF)
http://www.welt.de/print-welt/article230028/Neoliberaler-Mythos.html

Tony Blairs Wirtschaftspolitik setzt auf Staat, nicht auf Markt. Vollbeschäftigung wird vorgetäuscht. Nur auf dem Kontinent glaubt man an eine ungebrochene Erfolgsgeschichte

Zu Großbritannien fallen Kontinentaleuropäern eine Reihe von Eigenschaften und Anekdoten ein, mit denen sie die Insel im Nordatlantik hinreichend charakterisieren zu können glauben. Wäre es um das Land tatsächlich so bestellt, wie sie glauben, so ernährte man sich nördlich des Ärmelkanals fast ausschließlich von Fish and Chips und führe in roten Doppeldeckerbussen durch den Londoner Nebel. Doch wie so oft enthalten solche Vorurteile bestenfalls einen wahren Kern. In Wirklichkeit hat das pseudoindische Chicken Tikka den fritierten Fisch als englisches Nationalgericht abgelöst, die letzten der beliebten, wenn auch etwas in die Jahre gekommenen Doppeldeckerbusse werden gerade aus dem Verkehr gezogen, und das Hauptstadtwetter ist zwar noch nicht unbedingt mediterran, aber doch nur sehr selten neblig.

Zu den üblichen Stereotypen hat sich in den letzten Jahren eine weitere Vorstellung hinzugesellt. Großbritannien, so glaubt man auf dem Kontinent, sei mit seiner angeblich neoliberalen Wirtschaftsordnung der Gegenpol zum kontinentaleuropäischen Sozialstaatsmodell. Premierminister Tony Blair ist in dieser Sichtweise der legitime Erbe der radikalliberalen Margaret Thatcher, der sein Land zu einem Außenposten “amerikanischer Verhältnisse” in Europa gemacht habe. Kurzum: Großbritannien sei eine Insel des Kapitalismus in der EU.

Dabei handelt es sich erstaunlicherweise um ein Vorurteil, das sowohl von Linken als auch von Liberalen geteilt und gepflegt wird. Den Linken gilt der angelsächsische Kapitalismus als Schreckgespenst. Den Liberalen wiederum erscheint Großbritannien als marktwirtschaftlicher Leuchtturm der Prosperität in einem zutiefst staatsgläubigen und stagnierenden Europa.

Doch Linke und Liberale sind in diesem Fall im Irrtum vereint. Bei genauerer Betrachtung wird man feststellen, daß das kapitalistische Großbritannien ein dem Londoner Nebel vergleichbares Phänomen ist. Die neoliberale Oase des Kapitalismus ist in Wirklichkeit eine Fata Morgana Kontinentaleuropas.

Zu den positiven Mythen über die britische Wirtschaft, die sich etabliert haben, gehört die Vorstellung eines von Vollbeschäftigung gekennzeichneten Arbeitsmarktes. Die offizielle Arbeitslosenquote von derzeit 5,2 Prozent mag dem leidgeprüften deutschen Beobachter beneidenswert niedrig erscheinen. Doch wie schon Disraeli sagte, gibt es “Lügen, verdammte Lügen und Statistik”. Angewandt auf den britischen Arbeitsmarkt bedeutet dies, daß die Arbeitslosenquote nur einen Ausschnitt der Verhältnisse abbildet. Nimmt man etwa die Zahl der wirtschaftlich inaktiven Personen arbeitsfähigen Alters, so beträgt deren Zahl knapp acht Millionen. Unter Blair hat sich diese Zahl erhöht, obwohl die Wirtschaft gewachsen ist. Ein Faktor, der diesen Anstieg zum Teil erklärt, ist die Frühverrentung mittels sogenannter Arbeitsunfähigkeitsrenten. Mittlerweile beziehen etwa 2,6 Millionen Menschen solche “incapacity benefits”. Dabei schätzen selbst Minister, daß bis zu zwei Drittel der so Versorgten eigentlich in der Lage wären zu arbeiten. Würde man diese Personen konsequenterweise zu den Arbeitslosen zählen, so erhöhte sich die Arbeitslosenquote auf deutlich über zehn Prozent. Berücksichtigt man zudem, daß unter New Labour weit über 600 000 Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen wurden, dann stellt sich die Entwicklung des Arbeitsmarktes weit weniger positiv dar, als es die niedrige Arbeitslosenquote zunächst suggeriert. Eine derartige Arbeitsmarktpolitik entspricht jedoch nicht den Vorstellungen neoliberaler Ökonomen.

Auch die Lage der öffentlichen Finanzen ist kaum erfreulicher. Konnte sich die Regierung Blair in den ersten Jahren noch über Haushaltsüberschüsse freuen, so hat sich das Bild in jüngster Zeit gewandelt. Noch im Jahr 2000 verbuchte Schatzkanzler Brown einen Überschuß in Höhe von 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Fünf Jahre später ist daraus ein Defizit in fast derselben Höhe geworden. In Großbritannien wurde allerdings keine antizyklische Wirtschaftspolitik betrieben, sondern der Staat dehnte seine Aktivität schlichtweg weiter aus. Die britische Staatsquote wird laut OECD in wenigen Jahren bereits über der deutschen liegen.

Auch die Regulierungstätigkeit nahm unter Blairs Regierung spürbar zu. Die britischen Handelskammern etwa haben kürzlich ein Gutachten vorgestellt, in dem geschätzt wurde, daß diverse Vorschriften etwa im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes die britische Wirtschaft jährlich mit zehn Milliarden Pfund (14,5 Milliarden Euro) belasten. Allein die seit 1998 eingeführten Regulierungen haben bis heute Kosten von etwa 50 Milliarden Pfund (72,6 Milliarden Euro) verursacht. Hinzu gesellen sich immer mehr sogenannte Quangos (Quasiautonome nichtregierungsamtliche Einrichtungen). Dabei handelt es sich um halbautonome Behörden, die jedoch steuer- beziehungsweise abgabenfinanziert sind, darunter solche Merkwürdigkeiten wie ein britischer Kartoffelrat. Über 100 solcher Quangos sind unter New Labour eingerichtet worden. Doch damit nicht genug: Gesetzgebung und Wirtschaftspolitik der Blair-Regierung sind von Aktionismus und Interventionismus geprägt. In Whitehall herrscht der Glaube an die Möglichkeit von Prozeßpolitik; ordnungspolitische Prinzipien sind kaum zu erkennen. Stetigkeit und Verläßlichkeit in der Wirtschaftspolitik, eine Kernforderung liberaler Ökonomen, werden auf diese Weise nicht gewährleistet.

Nun ließe sich gegen all diese Kritikpunkte einwenden, daß Großbritannien immerhin noch ein vergleichsweise starkes Wirtschaftswachstum vorweisen konnte. Doch selbst hier muß Wasser in den Wein gegossen werden. Zum einen ist festzuhalten, daß Großbritannien in den ersten Jahren der Labour-Regierung höhere Wachstumsraten verzeichnete als in jüngster Vergangenheit. Mit anderen Worten: Die britische Wirtschaftsentwicklung hat deutlich an Schwung verloren. Zum anderen ist das Wirtschaftswachstum zu einem guten Teil von privater und öffentlicher Verschuldung getragen. Die private Verschuldung stützt sich dabei vor allem auf eine stark inflationäre Hauspreisentwicklung, welche selbst wiederum vor allem auf künstliche Angebotsrestriktionen im Immobilienmarkt zurückzuführen ist, wie die OECD seit längerem in ihren Gutachten moniert. Die schuldenfinanzierte expansive Fiskalpolitik unter Schatzkanzler Brown trägt ihrerseits kurzfristig zum Wirtschaftswachstum bei. Ob aber sowohl die private als auch die öffentliche Verschuldung in ihrem gegenwärtigen Ausmaß langfristig aufrechterhalten werden können, ist fraglich.

So bleibt bei genauerer Betrachtung der britischen Volkswirtschaft kaum der Eindruck, es handele sich um eine prosperierende, deregulierte und fundamental gesunde Volkswirtschaft. Ganz im Gegenteil scheint es so, als habe die Regierung Blair mit der Ausweitung der Staatstätigkeit und einer stetig zunehmenden Regulierungsdichte das postthatcheristische Großbritannien wirtschaftspolitisch näher an Kontinentaleuropa herangeführt. Um so erstaunlicher ist es daher, daß dieser Umstand ausgerechnet dort noch nicht bemerkt wurde.

Das Vorurteil vom neoliberalen, kapitalistischen Großbritannien ist nichts anderes als eine weitere unzutreffende Klischeevorstellung, vergleichbar mit Fish and Chips, roten Doppeldeckerbussen oder dem Londoner Nebel.

Der Autor leitet die wirtschaftspolitische Forschung des Londoner Think Tanks Policy Exchange http://www.policyexchange.org.uk

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