Vorsicht, Staatsmedizin! Was Ulla Schmidt von Englands Misere lernen kann

capital-portraitPublished in Capital, No. 26/2006 (7 December 2006), pp. 14-15

Es ist Herbst. Die Außentemperatur liegt bei knapp zehn Grad. Drinnen ist es auch nicht viel wärmer, denn die Heizung ist seit Wochen ausgeschaltet – aus Kostengründen, wie zu hören ist. Diejenigen, die sich in diesen Räumlichkeiten aufhalten müssen, haben eine deutlich abgekühlte Körpertemperatur von 35 Grad. In der Küche laufen Ameisen über den Boden, von den Wänden bröckeln Farbe und Putz. Unter einigen Betten sind wiederholt Kakerlaken gefunden worden. Willkommen auf der Hämatologie-Station eines führenden Londoner Krankenhauses, wo sich auch Premier Tony Blair kürzlich behandeln ließ.

In Zeiten der Diskussionen um die Reform des deutschen Gesundheitswesens lohnt ein Blick nach Großbritannien. Dort kann man lernen, wie ein Gesundheitsdienst besser nicht organisiert werden sollte. Es heißt, um in London zu leben, müsse man entweder reich und berühmt oder doch zumindest verrückt sein. Man sollte allerdings auch gesund oder wenigstens privat krankenversichert sein, denn sonst bekommt man es früher oder später mit dem National Health Service (NHS), dem staatlichen Gesundheitsdienst, zu tun. Jemandem, der etwa an das deutsche Niveau der medizinischen Versorgung gewöhnt ist, wird die erste Begegnung mit dem NHS wie eine Zeitreise in die Vergangenheit vorkommen. Selbst eine ukrainische Krankenschwester gab der Tageszeitung Daily Mail zu Protokoll, dass sie beim ersten Betreten eines englischen Krankenhauses den Eindruck gehabt hätte, sich in ein Museum verirrt zu haben. Eine Kollegin aus Simbabwe ergänzte, dass die Krankenhäuser in ihrer Heimat sauberer und besser geführt seien.

Solche Eindrücke werden von Statistiken bestätigt. Die British Medical Association schätzt zum Beispiel, dass sich fast jeder zehnte Patient im Laufe seiner stationären Behandlung mit Krankheitserregern infiziert. Das sind allein in England 300 000 Fälle pro Jahr, 5000 davon enden tödlich. Dabei ließen sich viele Infektionen schon durch einfachste Hygienemaßnahmen verhindern, die in britischen Krankenhäusern aber oft vernachlässigt werden: Nur 40 Prozent der Ärzte waschen sich regelmäßig die Hände.

Die Sauberkeit der Hospitäler ist in den britischen Medien ein trauriges Dauerthema, aber leider nicht das einzige Problem des NHS. Zwar konnten die extrem langen Wartezeiten für stationäre Behandlungen in den vergangenen Jahren reduziert werden, doch noch immer müssen Patienten lange auf Behandlungen warten, im Mittel sogar länger als zuvor. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums stehen derzeit knapp 800 000 Patienten auf Wartelisten, über ein Viertel von ihnen müssen sich zwischen 13 und 26 Wochen gedulden.

Das Problem der Wartezeiten ist ein Resultat der lange vernachlässigten Ausstattung des überwiegend steuerfinanzierten NHS. Zwar haben sich die Ausgaben im britischen Gesundheitswesen in den vergangenen zehn Jahren nahezu verdoppelt, aber noch immer liegen laut OECD die kaufkraftbereinigten Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit deutlich unter denen in Deutschland, Österreich, der Schweiz oder Frankreich – von den USA ganz zu schweigen. Wenig überraschend ist in diesen Ländern die Versorgung mit Ärzten, Zahnärzten und Krankenschwestern deutlich besser als in England. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der zusätzlichen Finanzmittel für den NHS in einer byzantinisch anmutenden Gesundheitsbürokratie versickert.

Das britische System ist somit nach allen verfügbaren Daten eines mit Sicherheit nicht: eine Erfolgsgeschichte. Ursprünglich eingerichtet wurde der NHS 1948 mit dem Ziel, eine einheitliche und gute Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung zu garantieren. Im Laufe der Zeit entwickelte sich daraus ein Mythos, der manchmal Züge einer Staatsreligion annimmt. „Mögen wir Briten auch noch so unterschiedlich sein, vor dem NHS sind wir alle gleich“, könnte das Motto lauten. Bei aller Kritik an den Zuständen im britischen Gesundheitswesen wird dieser Anspruch hochgehalten, und zwar quer durch alle Parteien. Dabei übersieht die egalitäre Folklore allerdings, dass die Zweiklassen-Medizin, die der NHS verhindern sollte, in der Praxis längst existiert. Wer es sich nämlich leisten kann, versichert sich zusätzlich privat und kommt damit in den Genuss von Dingen, die deutsche Patienten für selbstverständlich halten: beispielsweise saubere Krankenhäuser, eine prompte Behandlung und freie Arztwahl.

Auch in den Gesundheitssystemen anderer Ländern gibt es Probleme, und Deutschland ist da keine Ausnahme. Doch wer aus britischer Perspektive die Debatte um die deutsche Gesundheitsreform verfolgt, ist doch sehr verwundert. Zum einen vermittelt sie den Eindruck, die Gesundheitsversorgung stünde kurz vor dem Kollaps. Wer so etwas behauptet, der sei herzlich eingeladen, sich in britischen Krankenhäusern umzusehen. Noch mehr verwundert an der deutschen Reformdebatte jedoch, dass einige Beteiligte offenbar darauf aus sind, das deutsche Gesundheitswesen zu einer Art „NHS light“ umzubauen. Die immer wieder ins Felde geführte Bürgerversicherung, die Forderung nach einer Einschränkung oder gar Abschaffung der privaten Krankenversicherung und auch die Einrichtung des Gesundheitsfonds gehen alle in dieselbe Richtung: Abbau von Wettbewerb zugunsten von mehr Staatsmedizin.

Dabei wäre genau das Gegenteil dieser Politik richtig. Eine Möglichkeit bestände etwa darin, eine allgemeine Versicherungspflicht, übertragbare individuelle Altersrückstellungen sowie Wettbewerb zwischen den Krankenversicherungen mit direkten Transfers an Bedürftige zu kombinieren. Ein solches Modell stellten die Ökonomen Sascha Wolf und Guido Raddatz jüngst in einer Studie für das Berliner Institut für Unternehmerische Freiheit vor. Auf diese Weise wäre ein sowohl wettbewerbsorientiertes als auch solidarisches Gesundheitswesen zu verwirklichen.

Doch solch pragmatische Ideen sind bislang in der deutschen Reformdebatte mit all ihren Grabenkämpfen zwischen den Regierungsparteien, Bundesländern und Gesundheitsanbietern kaum zu vernehmen. Stattdessen herrscht der Glaube, durch eine Vergrößerung des staatlichen Einflusses mehr Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit erreichen zu können. Dass dies ein Trugschluss ist, können die frierenden und wartenden Patienten in britischen Krankenhäusern bestätigen.

Oliver Marc Hartwich: Der Diplomökonom und promovierte Jurist forscht seit 2005 in der renommierten englischen Mitte-Rechts-Denkfabrik Policy Exchange in London, die den konservativen Parteichef David Cameron mit Ideen beliefert. Zuvor war der 31 Jährige als Assistent im britischen Oberhaus tätig.