Der britische Mindestlohn taugt nicht als Vorbild für Deutschland

capital-portraitPublished in Capital (Cologne), 14 February 2008

Von Winston Churchill stammt die Bemerkung, dass man von zwei Ökonomen immer genau zwei ­verschiedene Meinungen erhalte, es sei denn, einer der beiden sei Lord Keynes. In diesem Fall bekäme man nämlich gleich drei unterschiedliche Standpunkte zu hören. Es gibt in der Tat kaum Fragen, über die in der Wirtschaftswissenschaft nicht gestritten würde. Aber zu ­diesen wenigen Ausnahmen zählt – jedenfalls bei den, die öffentliche Diskussion beherrschenden Wirtschaftswissenschaftlern – die Überzeugung, dass Mindestlöhne beschäftigungsfeindlich sind.

Indem der Staat eine Lohnuntergrenze vorschreibt, würden jene Arbeitnehmer nicht mehr beschäftigt, deren Produktivität darunter liege. So lautet das Standard­argument der Mindestlohngegner. Es lässt sich bis zu den Schriften John Stuart Mills in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, und dieser Effekt ist danach in Dutzenden von Studien empirisch bestätigt worden.

In der deutschen Mindestlohndebatte könnte man heute allerdings den Eindruck gewinnen, dass dieses eherne ökonomische Gesetz in einem Land erfolgreich außer Kraft gesetzt wurde, nämlich in Großbritannien. Dort, so behaupten zumindest die Befürworter eines gesetzlichen Mindestlohns von Arbeitsminister Olaf Scholz bis zum Fraktionschef der Linken Oskar Lafontaine, könne man sehen, dass sich Mindestlöhne und Vollbeschäftigung gleichzeitig erreichen ließen. Doch Vorsicht ist geboten, denn die Insel ist keineswegs das Schlaraffenland, in dem sich ökonomische Gesetzmäßigkeiten nach Belieben aushebeln ließen. Es ist zwar wahr, dass die Labour-Regierung von Tony Blair im Jahr 1999 den ersten gesetzlichen Mindestlohn der britischen Geschichte eingeführt hat. Aber ob dessen Wirkungen tatsächlich so segensreich waren, wie mancher in Deutschland glauben möchte, darf bezweifelt werden.

Der erste Irrtum der anglophilen Mindestlohn­befürworter besteht in der Annahme, dass im Vereinigten Königreich Vollbeschäftigung herrsche. Tatsächlich gibt es nur knapp über 800.000 Briten, die derzeit Arbeitslosengeld beziehen. Zur offiziel­len Arbeitslosenquote zählen ferner jene, die zwar beschäftigungslos sind, aber keinen Anspruch auf die „Jobseeker’s Allowance“ haben. Insgesamt sind so 1,65 Millionen offiziell als arbeits­los registriert, was einer Quote von 5,3 Prozent entspricht. Dieser Wert liegt nur wenig über dem, was Ökonomen als “natürliche” Arbeitslosigkeit bezeichnen würden – also das unvermeidbare Niveau, das sich vor allem durch Arbeitsplatzwechsel ergibt.

Doch leider ist dies nicht die ganze Wahrheit über den britischen Jobmarkt. Neben dem Arbeitslosengeld gibt es nämlich noch weitere Sozialleistungen für Beschäftigungslose. Mehr als 2,6 Millionen Briten nehmen etwa Hilfen für Erwerbsunfähige in Anspruch. Forscher der Sheffield Hallam Universität schätzen, dass es sich bei 40 Prozent von ihnen um versteckte Arbeitslose handelt, die tatsächlich durchaus erwerbsfähig wären. Anders ausgedrückt: Die wirkliche Arbeitslosigkeit dürfte um etwa eine Million über den offiziellen Zahlen liegen, was einer Quote von 8,4 Prozent entspricht. Vollbeschäftigung sieht anders aus.

Der britische Sozialstaat ist auch der Grund, weshalb es kaum möglich ist, eindeutige Aussagen über die Beschäftigungswirkung des britischen Mindestlohns zu machen. Denn eigentlich gibt es nicht nur einen, sondern derer gleich zwei. Neben dem gesetzlichen Mindestlohn von zurzeit 5,52 Pfund pro Stunde – umgerechnet rund 7,50 Euro – besteht ein impliziter Mindestlohn. Dieser ergibt sich aus der Summe aller Sozialleistungen, die sich auch ohne Arbeit erhalten lassen. In Großbritannien liegen diese sehr nahe an dem Einkommen, das sich beim Mindestlohn ergäbe, teilweise sogar darüber. Familien mit Kindern, in denen die Eltern Leistungen für Erwerbsunfähige beziehen, sind ­finanziell beispielsweise besser gestellt als solche, in denen beide Eltern zum Mindestlohn arbeiten. Erst ab einem Wocheneinkommen von umgerechnet 580 Euro – mehr als doppelt so viel wie beim Arbeiten zum gesetzlichen Mindestlohn – würde sich für sie Erwerbstätigkeit lohnen.

Selbst in Fällen, in denen Arbeitnehmer mit dem Mindestlohn mehr verdienen könnten als die ­Sozialleistungen, muss sich die Annahme eines Jobs nicht unbedingt für sie lohnen. Das gilt besonders dann, wenn sich die Haushaltskasse durch Schwarzarbeit aufbessern lässt, die natürlich keinem Mindestlohn unterliegt. Der Umfang der Schattenwirtschaft in Großbritannien wird auf über zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts ­geschätzt.

Ob der Mindestlohn somit einen größeren Effekt gehabt hat, ist fraglich. Naturgemäß kommt er vor allem bei Geringqualifizierten zum Tragen. Doch gerade diese Gruppe kann sich unter Ausnutzung aller Sozialleistungen und durch gelegentliche Schwarzarbeit deutlich besser stellen als durch mindestentlohnte Arbeit. Wer somit dennoch zum Mindestlohn arbeitet, der hat dazu im Grunde kaum einen vernünftigen ökonomischen Anreiz – außer sich über seine Tätigkeit langfristig für bessere und vor allem besser bezahlte Jobs zu empfehlen.

Leider dürfte gerade diese Hoffnung durch den ­gesetzlichen Mindestlohn zunichte gemacht werden. “Er hat praktisch gesetzlich definiert, was ­unqualifizierte Arbeit wert ist”, gibt der Wirtschaftswissenschaftler Richard Wellings vom Londoner Institute of Economic Affairs zu bedenken. Für ungelernte Arbeitskräfte bedeutet dies, dass der gesetzliche Mindestlohn effektiv ein Maximallohn ist, von dem nach oben nicht mehr abgewichen wird. Dies gilt insbesondere, solange es einen ­Zuzug billiger Arbeitskräfte aus Osteuropa gibt. Weil sie einen vollen Anspruch auf Sozialleistungen erst nach einem Mindestaufenthalt erwerben, ist bei ihnen die Bereitschaft höher, zum Mindestlohn zu arbeiten.

Der Mindestlohn versagt überdies, in allen Regionen des Landes einen anständigen Lebensunterhalt aus Arbeit zu sichern. Grund ist das enorme wirtschaftliche Gefälle auf der Insel. Städte wie Cam­bridge und Liverpool trennen Welten, wenn es um Einkommen, Berufsqualifikationen und Lebenshaltungskosten geht. Aber die gesetzliche Lohnuntergrenze ist überall dieselbe. Das führt dazu, dass der britische Mindestlohn gleichzeitig zu hoch und zu niedrig ist – je nachdem, um welche Stadt es sich handelt.

Bei näherer Betrachtung zeigt das britische Experiment mithin eher die Schwierigkeiten als die Vorteile staatlicher Niedriglohnvorgaben. Als Vorbild für Deutschland taugt es jedenfalls nicht, und die ökonomischen Gesetze bleiben auch auf den Britischen Inseln weiterhin in Kraft.

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