Mehr Schröder und Rudd, weniger Lafontaine und Dunwoody

capital-portraitPublished in Capital (Cologne), 24 July 2008

Von Karl Marx wussten die Sozialisten, dass sich Geschichte zweimal ereignet: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Heutige Sozialdemokraten können hingegen erleben, wie sich die Geschichte gleich mehrfach und an unterschiedlichen Orten wiederholt.

Wie viel davon Tragödie und wie viel Farce ist, steht auf einem anderen Blatt. Um die Sozial­demokratie ist es nämlich nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien nicht zum Besten bestellt. Dabei sah es noch vor zehn Jahren nach dem Beginn eines neuen sozial­demokratischen Zeitalters aus. Doch seitdem hat man zumindest in Europa vergessen, was die Mitte-Links-Parteien damals so stark gemacht hat.

Das vorläufige Ende der Geschichte für die britischen Sozialdemokraten hat einen Namen. Nein, er lautet nicht Gordon Brown, der nach seinem ers­ten Jahr als Premierminister in Umfragen über 20 Prozentpunkte hinter den oppositionellen Konservativen zurückliegt. Zur wahren Totengräberin des Mitte der 90er-Jahre gestarteten Projekts von “New” Labour wurde ausgerechnet die weitgehend unbekannte Politikerin Tamsin Dunwoody.

Ms. Dunwoody wurde als Kandidatin der Labour-Partei für Crewe und Nantwich nominiert, nachdem ihre Mutter, die diesen Wahlkreis jahrzehntelang im Parlament vertreten hatte, gestorben war. Trotz der Verschleißerscheinungen der seit elf Jahren regierenden Labour-Partei hätte die Nachwahl eine klare Angelegenheit sein sollen: Der Wahlkreis war bislang eine Hochburg für sie.

Doch Dunwoody entschloss sich mit der Unterstützung ihrer Partei, einen aggressiven Wahlkampf zu führen, der ganz auf die Person ihres Gegenkandidaten abzielte. Dieser stammt aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie und arbeitet als erfolgreicher Rechtsanwalt. Das reichte für Labour, um ihn als “Toff” zu diffamieren, also als arroganten Angehörigen der “Upper Class”. Labour-Wahlhelfer liefen in Frack und Zylinder durch die Straßen von Crewe und Nantwich, um sich über den angeblichen Oberklassetrottel zu mokieren.

Der längst vergessene Klassenkampf war damit in die britische Politik zurückgekehrt, wenn auch – wie von Marx korrekt vorhergesehen – als Farce. Nur ging die Kalkulation der Labour-Partei nicht auf. Die Konservativen erzielten mit 49 Prozent einen Erdrutschsieg. Trotz der Wirtschaftskrise steht den Briten offensichtlich nicht der Sinn nach einem Aufstand des Proletariats. Viel schlimmer jedoch: Mit der Kampagne von Crewe und Nantwich ging das Projekt von New Labour nach Meinung britischer Kommentatoren spektakulär zu Ende.

Tony Blairs New Labour war erst dadurch für breite Schichten wählbar geworden, dass er sich und seine Partei in der Mitte der Gesellschaft positionierte. Unter ihm war Labour die Partei, die Klassenschranken einreißen und die Gesellschaft durchlässiger machen wollte. Sie war nicht länger lediglich der politische Arm der Gewerkschaften, sondern eine weit in konservative und liberale Kreise hineinreichende Bewegung. Nur so konnte sie die Konservativen nach 18 Regierungsjahren ablösen – und nur so konnte sie drei Unterhauswahlen in Folge gewinnen.

So erfolgreich war das Modell von New Labour, dass es von den deutschen Sozialdemokraten unter Gerhard Schröder eilig kopiert wurde. Dort hieß New Labour die “Neue Mitte”. In beiden Ländern waren aber die Rezepte die gleichen: Markt statt Marx, S-Klasse statt Arbeiterklasse. Und die Strategie ging auf: Blair erzielte in der Wahl 1997 mit 43,2 Prozent ein Ergebnis, dem die 40,9 Prozent für Schröders SPD ein Jahr später kaum nachstanden.

Doch in beiden Ländern, Deutschland und Großbritannien, haben sich die damaligen Ergebnisse seitdem in den Umfragen beinahe halbiert. Ein Teil dieser Erosion ist sicherlich dem Abnutzungseffekt durch die lange Regierungszeit geschuldet. Aber das erklärt beileibe nicht alles. Mindestens ebenso wichtig ist die Aufgabe der politischen Mitte. In Großbritannien hat sich Labour nach und nach als eine Partei hoher Steuern und Abgaben entpuppt, die den Staatsanteil durch Ausgabenprogramme kräftig steigert. In Deutschland wiederum lässt sich die SPD von der post-kommunistischen Konkurrenz und Oskar Lafontaine dazu verführen, nach links zu driften.

Was heute noch “new” an Labour und “neu-mittig” an der SPD sein soll, ist kaum noch zu erkennen. Bestraft wird es hier wie dort mit desaströsen Umfragewerten – und einer Identitätskrise der Sozialdemokratie.

Es ist eine abgedroschene Weisheit, dass man Fußballspiele vor allem durch gutes Flügelspiel gewinnt, politische Wahlen jedoch in der Mitte, aber sie trifft nach wie vor zu. An den politischen Rändern kann die Sozialdemokratie nicht einmal das gewinnen, was sie mit einer randständigen Strategie in der Mitte verliert.

Doch es gibt noch Sozialdemokraten, die dies verstanden haben, nur eben nicht in Europa. In Australien genießt der neue Premier Kevin Rudd von der Labor-Partei ALP derzeit Zustimmungswerte von über zwei Dritteln. Dabei gilt Rudd eher als spröder und wenig charismatischer Technokrat. Aber er hat die Wählerschaft davon überzeugt, dass es ihr mit einer von seinen Sozialdemokraten geführten Regierung besser ginge. Zu Rudds Programm gehören auch Steuersenkungen. Zudem beruft er sich auf die liberalen Wirtschaftsreformen der Premierminister Robert Hawke und Paul Keating in den 80er-Jahren – beide waren Sozialdemokraten. Gerade auch denen verdankt Australien seine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der letzten Jahre.

Die Ähnlichkeiten zwischen Rudd und dem frühen Blair und Schröder sind frappierend – und sie sind kein Zufall. Blairs früherer Gesundheitsminister Alan Milburn half den australischen Genossen als Berater, sich ein neues Image zu geben. Statt New Labour heißt es dort “New Leadership”, während die Parteiveranstaltungen der ALP wie eine Neuauflage von Blairs Frühphase wirken. Kein Zweifel: In Australien hat sich die Geschichte wiederholt, allerdings weder als Tragödie noch als Farce, sondern mit einem grandiosen Wahlsieg für die Sozialdemokratie. Die SPD hat die Wahl. Sie kann in den linken Klassenkampf ziehen. Oder sie kann sich bemühen, die Mitte zurückzuerobern. Die deutschen Genossen können sich bei Dunwoody und Rudd erkundigen, welche Strategie die erfolgversprechendere ist.