Britisches Postleitzahlen-Lotto, vorbildliches Gelsenkirchen
Published in Capital (Cologne), 23 October 2008
Der britische Oppositionsführer David Cameron war außer sich vor Wut. “Das ist doch Wahnsinn, Müll von der ersten bis zur letzten Seite!”, diktierte er den Journalisten aufgeregt in die Notizblöcke. Und dann legte er nach: “Ich habe gehört, dass der Herausgeber des Berichts nach Australien geht. Je früher er sein Schiff nimmt, desto besser.”
Der Herausgeber, der Camerons Zorn so erregt hatte, war ich. Und der Bericht, von dem dieser sich so deutlich distanzierte, handelte von dem enormen ökonomischen und sozialen Gefälle, das es zwischen den prosperierenden Landesteilen und den ärmeren Städten Großbritanniens gibt. Das Vereinigte Königreich ist in Wirklichkeit längst kein einiges Land, sondern tief in sich gespalten. Auf der einen Seite gibt es erfolgreiche Orte wie London und Oxford, auf der anderen Seite aber auch Städte wie Hull und Sunderland, die seit Jahrzehnten mit dem Niedergang zu kämpfen haben. Kein angenehmes Thema für Politiker.
Pointierte Berichte über Ursachen, Ausmaß und Auswirkungen des regionalen Wohlstandsgefälles sind durchaus auch in Deutschland an der Tagesordnung. Doch in wohl keinem anderen europäischen Land sind Arm und Reich so klar geografisch voneinander getrennt wie in Großbritannien, auch wenn manchmal nur wenige Kilometer dazwischen liegen. Ein Junge, der heute im schottischen Ort Lenzie geboren wird, hat nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO eine statistische Lebenserwartung von 82 Jahren. Aber im nur 13 Kilometer entfernten Osten Glasgows wären es 28 Jahre weniger. Dort beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung gerade einmal 54 Jahre – und damit weniger als in Äthiopien.
Die eigentliche Trennlinie verläuft aber zwischen dem tendenziell deutlich wohlhabenderen Südosten und dem überwiegenden Rest des Landes. Neben der Lebenserwartung gibt es eine Reihe weiterer krasser Beispiele für die Spaltung des Vereinigten Königreichs. So erhalten im Südosten Englands zum Beispiel fast 30 Prozent aller Schulabsolventen Bestnoten. Im Nordosten sind es nicht einmal 20 Prozent. Spektakuläre Unterschiede gibt es auch bei gängigen Kennziffern wie den Arbeitslosenquoten, Hauspreisen oder der Kaufkraft.
Die Briten haben für diese geografischen Unterschiede einen Begriff erfunden. Sie nennen es die “Postcode Lottery”, das Postleitzahlenlotto. Es gleicht in der Tat einem Glücksspiel, welche Zukunftsaussichten man hat – ein Glücksspiel, bei dem die Chancen vor allem vom Wohnort abhängen. Das Labour-nahe Centre for Cities hat die Unterschiede aufgedeckt. So liegen die durchschnittlichen Wochenlöhne in Reading bei 646 Pfund und in London gar bei 675 Pfund.
In Liverpool sind es hingegen nur 473 Pfund und in Sunderland gerade einmal 440 Pfund. Dass es innerhalb eines Landes solche massiven Unterschiede gibt, ist wahrscheinlich nie ganz zu vermeiden. Bedenklich ist hingegen, dass allen staatlichen Anstrengungen zum Trotz die Lücke zwischen armen und reichen Briten weiter wächst. Nach sehr vorsichtigen Schätzungen wurden während der vergangenen vier Jahrzehnte mindestens 100 Milliarden Pfund zur Stärkung der regionalen Wirtschaftsstruktur ausgegeben – jedoch ohne den gewünschten Effekt.
Der typische Fall einer Stadt, die aus allen möglichen Töpfen Fördergelder für ihre Entwicklung erhalten hat, ist Bradford. 1995 betrug dort die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung 9250 Pfund, während sie im Landesdurchschnitt bei 11037 Pfund lag. Zehn Jahre später hatte sich Bradford zwar auf 13180 Pfund steigern können, aber im selben Zeitraum stieg auch der Landesdurchschnitt auf 17451 Pfund. Bradford hatte sich mithin relativ sogar verschlechtert – von 83 Prozent des Durchschnittswerts auf 75 Prozent. Trotzdem feierten die verantwortlichen Politiker den mäßigen nominalen Anstieg als grandiose Verbesserung. Wenn das ein Erfolg ist, was wäre dann ein Versagen?
Stellt sich die Frage, wie sich das Scheitern der britischen Regionalpolitik erklären lässt und was man daraus lernen kann, auch für Deutschland. Die deutschen Liverpools und Hulls heißen Gelsenkirchen oder Schwedt und haben mit ganz ähnlichen Problemen zu tun. Die erste Lektion ist einfach. Sie lautet: In einer sich ändernden Welt wird es immer auch Städte und Regionen geben, die schrumpfen. Die Wirtschaftsgeografie des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr jene des 20. oder 19.
Wo früher einmal die Nähe zu Seehäfen oder Kohlevorräten ein strategischer Vorteil war, zählen heute ganz andere Faktoren. Cluster von erfolgreichen Unternehmen, herausragende Forschungseinrichtungen und gute internationale Verkehrsverbindungen sind für die postmoderne Ökonomie unverzichtbar und üben eine Sogwirkung auf andere Landesteile aus.
Die Menschen sind immer schon dahin gezogen, wo es Arbeit und gute Aufstiegschancen gab, und früher waren dies etwa Gelsenkirchen und Liverpool. Doch heute wäre es unsinnig, ihren Fortzug mit allen Mitteln verhindern zu wollen. Nur braucht es politischen Mut, einer Stadt oder Region diese unbequeme Wahrheit zu sagen. Es ist allemal leichter so zu tun, als könne die Politik die Wirtschaftsgeografie außer Kraft setzen. Dabei findet die Abstimmung längst mit den Füßen statt: Gelsenkirchen und Liverpool haben in den letzten 50 Jahren jeweils etwa ein Drittel ihrer Einwohner verloren.
Aber die zweite Lektion lautet, dass die Akzeptanz des Schrumpfens nicht mit Defätismus zu verwechseln ist. Schrumpfen mag zwar schmerzhaft sein, doch es bietet auch Chancen. In Gelsenkirchen zum Beispiel arbeitet die Kommunalpolitik daran, durch Um- und Neubauten das Wohnangebot aufzuwerten, um damit den Bewohnern eine bessere Lebensqualität zu bieten. Von der Kreativität der Gelsenkirchener Stadtplaner könnten auch die Briten noch etwas lernen.
Doch zu einer nüchternen Bestandsaufnahme fehlt in Großbritannien noch die Bereitschaft. Lieber macht man sich vor, dass die Politik entscheiden könnte, wohin die Menschen ziehen und wo sie bleiben sollen. Das funktioniert aber nur selten, wenn auch Ausnahmen die Regel bestätigen: Ich habe Camerons Anweisung befolgt und bin inzwischen tatsächlich nach Australien gezogen. Wenn auch nicht per Schiff.