Australien lacht über Europa

Published in DIE WELT (Berlin), 18 December 2009 (PDF)
http://www.welt.de/die-welt/debatte/article5568074/Australien-lacht-ueber-Europa.html

Immer noch hält sich der Kontinent für großartig und gewichtig in der Welt. Australien hat andere Vorbilder: Das Land ist fast schuldenfrei, modern und vorbildlich in seiner Integrationspolitik.

In der Vorrunde der Fußballweltmeisterschaft nächstes Jahr werden sie direkt aufeinandertreffen, Australien und Deutschland. Die Geringschätzung des vermeintlich schwächeren Gegners aus Down Under verbirgt sich dabei in Deutschland hinter der diplomatischen Formulierung von einer “lösbaren Aufgabe”.

Das ist typisch für die in ganz Europa verbreitete und oft an Arroganz grenzende Einstellung gegenüber dem asiatisch-pazifischen Raum, nicht nur im Fußball. Tatsächlich spielt gerade Australien inzwischen in einer anderen Liga als Deutschland. Schade nur, dass die Deutschen das nicht zur Kenntnis nehmen.

In Australien lebende Deutsche können sich heute per Internet-Radio und -Fernsehen, Podcasts und Nachrichtenportalen über das Geschehen in der fernen Heimat gerade so auf dem Laufenden halten, als hätten sie Deutschland nie verlassen. Aber mit der Zeit stellt sich dabei das unbehagliche Gefühl ein, an einer merkwürdigen Wahrnehmungsstörung zu leiden. Wie ist es möglich, dass Deutschland von Krise zu Krise zu schlingert, während die Australier selbst die globale Finanzkrise weitgehend unbeschadet überstanden haben? Und wie kann es sein, dass in Deutschland dieselben Fragen immer und immer wieder diskutiert werden, ohne dass sich dort jemals etwas zum Besseren ändert?

Die Antwort auf beide Fragen ist dieselbe: In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich Australien von Grund auf neu erfunden und konsequent modernisiert, während die Deutschen das Ausmaß ihrer Probleme bis heute nicht begriffen haben.

Unter den sozialdemokratischen Premierministern Bob Hawke und Paul Keating hatte Australien in den 80er-Jahren seine Währung freigegeben, Handelsbarrieren abgebaut und Produktmärkte liberalisiert. In Deutschland war Helmut Kohl Kanzler.

In den 90er-Jahren wurden in Australien sowohl unter sozialdemokratisch als auch konservativ geführten Regierungen Staatsunternehmen privatisiert, Sozialstaat und Arbeitsmarkt reformiert sowie ein radikal neues Steuersystem eingeführt. Und in Deutschland war Kohl immer noch Kanzler, bis man sich nach 16 Jahren an ihm leidgesehen hatte und Gerhard Schröder wählte.

Auch im vergangenen Jahrzehnt änderte sich nichts am Reformeifer der Australier, die nun ihre öffentlichen Haushalte sanierten und die Schulden des Bundes weitgehend abtrugen. Der jetzige sozialdemokratische Premierminister Kevin Rudd wurde 2007 überhaupt erst wählbar, nachdem er sich selbst wiederholt als “ökonomisch konservativ” bezeichnet und Haushaltsüberschüsse versprochen hatte. In Deutschland hingegen beendeten die Liberalisierungstrippelschritte der Agenda 2010 sowohl die Regierung Schröder als auch den temporären Reformeifer von Angela Merkel.

Das Ergebnis dieser unterschiedlichen Konzepte in der Wirtschaftspolitik, wobei man für Deutschland eher von ökonomischer Konzeptionslosigkeit sprechen sollte, ist eindeutig: Australien hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Wachstumsdynamik erlebt, von der Deutschland nur träumen kann.

Im Zeitraum von 1991 bis 2008 wuchs die australische Wirtschaft durchschnittlich um über 3,5 Prozent pro Jahr. In Deutschland waren es kümmerliche 1,5 Prozent. Im selben Zeitraum wurde die australische Arbeitslosigkeit nach ILO-Rechnungsart von 9,3 auf 4,3 Prozent mehr als halbiert, während sie in Deutschland von 5,5 auf 7,4 Prozent kräftig stieg. Das ist umso bemerkenswerter, als Australien gleichzeitig auch noch einen massiven, überwiegend migrationsbedingten Bevölkerungszuwachs nicht nur verkraftete, sondern diese Einwanderer erfolgreich in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integrierte.

Gerade in der Frage der Integration trennen Deutschland und Australien Welten. Wenn Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin zu Recht darauf hinweist, dass es große Bildungs- und Integrationsdefizite bei in Deutschland lebenden Migranten gibt, dann war das noch zu harmlos beschrieben. Er hätte ebenso gut erwähnen können, dass Ausländer bei einem Bevölkerungsanteil von knapp neun Prozent zwischen 20 und 30 Prozent aller schweren Straftaten begehen. Im Bereich der organisierten Kriminalität beträgt der Anteil nicht deutscher Tatverdächtiger sogar 58 Prozent. Vielleicht liegt dies auch daran, dass die Deutschen den Ausländern zu keinem Zeitpunkt eine verbindliche Grundlage für das Zusammenleben in ihrem Land vorgegeben haben.

Ganz anders stellt sich die Integration in Australien dar. Australier haben eine klare Vorstellung davon, wer sie sind und was sie sein wollen, nämlich eine offene, durchaus auch stolze Nation aus unterschiedlichen Ethnien mit einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamen Grundwerten. Nichts anderes erwarten sie von ihren Einwanderern. Es steht ihnen auf dieser Grundlage frei, ihre Religion auszuüben und Traditionen zu pflegen, aber sie müssen dabei zu einem lebendigen und voll integrierten Teil der australischen Gesellschaft werden.

Dass dies insgesamt gut funktioniert, das beweisen die Zahlen vom australischen Arbeitsmarkt, der jedes Jahr Hunderttausende Zuwanderer aufsaugt. Während Deutschland mehr schlecht als recht mit seinen Migranten lebt, lebt Australien vom Fleiß und der Kreativität seiner Einwanderer. Gerade auch deshalb bleibt Australien ein attraktives Ziel für junge, gut qualifizierte und integrationswillige Zuwanderer. Bis 2050 soll die Bevölkerung so von jetzt 22 Millionen auf dann 35 Millionen wachsen, während der deutsche Schrumpfungs- und Alterungsprozess längst begonnen hat.

Mit seinen strukturellen Problemen in den Bereichen Wirtschaft, Demografie und Integration ist Deutschland ein Land, von dem sich Australien nichts verspricht noch für die Zukunft etwas erhofft. Für Australier ist es allemal spannender, sich auf den Aufschwungsoptimismus in der eigenen Region einzulassen, als europäischen Staaten wie Deutschland beim langsamen Niedergang zuzuschauen.

US-Präsident Barack Obama scheint das ähnlich zu sehen: Zum Jubiläum des Mauerfalls nach Berlin flog er nicht, wohl aber zur Konferenz der Apec-Staaten nach Singapur. Das 21. Jahrhundert wird im asiatisch-pazifischen Raum gemacht, und kein anderes Land profitiert so sehr davon wie Australien. Europa, sozusagen der Mutterkontinent Australiens, spielt demgegenüber eine immer geringere Rolle.

Umso bemerkenswerter, dass man in Deutschland immer noch glaubt, man könne der Welt seine angeblich bewährten Modelle zur Nachahmung empfehlen. Es hat etwas Weltfremdes, wenn die Bundeskanzlerin auf G-20-Treffen für die soziale Marktwirtschaft (oder das, was sie aktuell darunter versteht) wirbt. Glaubt sie wirklich, dass die Australier das chronische Defizit der deutschen Sozialkassen für nachahmenswert halten? Denkt sie vielleicht, dass sich die Chinesen nach dem System der deutschen Mitbestimmung sehnen, weil ihre Gewerkschaftsfunktionäre dann auch einmal Lustreisen nach Brasilien unternehmen können? Und wie erklärt man 400 Millionen Indern ohne Stromanschluss die Vorzüge des deutschen Atomausstiegs?

Deutschland hat es jahrzehntelang verpasst, seine Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfest zu machen. Nun hätte die neue schwarz-gelbe Bundesregierung vielleicht die letzte Möglichkeit, dringend benötigte und lange vernachlässigte Reformen durchzuführen, bevor das Land endgültig in der Schulden-, Demografie- und Segregationsfalle versinkt. Doch obwohl die Bundestagswahl die theoretisch reformfreudigste Regierung hervorbrachte, die Deutschland erhalten konnte, bewegt sich wieder einmal nichts.

Im Gegenteil: Schwarz-Gelb ist die Fortsetzung von Rot-Grün ohne andere Mittel. Der FDP-Entwicklungsminister lässt sich von Bob Geldof als “kompetent” preisen und verspricht Subventionen für weltweite Klimaprojekte. Die Sozialpolitiker der Union denken sich munter neue Wohltaten für Familien aus, und auch die nunmehr verfassungsrechtliche Schuldenbremse hält keinen der Koalitionäre von einer Politik auf Pump ab. Vom ewigen Reformstau im Steuerrecht oder beim Föderalismus ganz so schweigen.

Die Deutschen können sich freuen, wenn sie Australien nächstes Jahr wenigstens beim Fußball schlagen. Viel mehr zu feiern wird es für sie in Zukunft auch nicht geben.

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