Australiens Platzangst

Published in Neue Zürcher Zeitung (Zurich), 13 August 2010 (PDF)

http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/australiens-platzangst-1.7193826

Australien boomt – doch ein Bevölkerungswachstum soll nicht sein dürfen.

2,7 Einwohner pro Quadratkilometer: Das hört sich nicht unbedingt nach Klaustrophobie verursachender Überfüllung an. Trotzdem breitet sich in Australien derzeit Angst aus. Ein Kontinent, fast zweihundertmal so gross wie die Schweiz, aber mit einer kleineren Einwohnerzahl als die Benelux-Länder, hadert mit seiner positiv ausfallenden Bevölkerungsprognose – und übersieht die Chancen des Wachstums.

Wahlkämpfe sind selten die beste Gelegenheit für nüchterne Bestandesaufnahmen. Australien ist da keine Ausnahme. Nach dem Sturz von Premierminister Kevin Rudd infolge einer Palastrevolte Ende Juni benötigte seine Nachfolgerin Julia Gillard dringend ein Feld zur Profilierung bei den anstehenden Neuwahlen. Sie fand es in der Furcht vor einem weiteren Bevölkerungszuwachs. Seither wiederholt sie mantrahaft, dass sie sich kein grösseres Australien wünsche, sondern ein «nachhaltiges».

Rudd hatte sich den Unmut der Boulevardmedien zugezogen, als er sich als Anhänger der Idee eines «Big Australia» zu erkennen gegeben hatte. Eine Kommission hatte vorhergesagt, dass die Einwohnerzahl bis zur Jahrhundertmitte von derzeit 22,3 Millionen auf 35,9 Millionen steigen könnte. Eigentlich keine schlechte Prognose, denn die Kombination aus einer hohen Geburtenrate und dem Zuzug junger, qualifizierter Einwanderer würde den Alterungsprozess bremsen und Wachstumspotenzial schaffen.

Für viele Australier sind neue Nachbarn dennoch keine Wunschvorstellung. Australische Hauspreise sind hoch; Pendlerzüge in den Metropolen sind zur Rushhour bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf Krankenhausbehandlungen muss teilweise lange gewartet werden, und wer mit dem Auto zur Arbeit fährt, der musste in den letzten Jahren angesichts des alltäglichen Staus seinen Wecker immer wieder einmal auf ein paar Minuten früher stellen.

Es ist die grosse Ironie Australiens, dass es zwar einerseits eines der am dünnsten besiedelten Länder der Welt ist. Es ist aber andererseits auch eines der urbanisiertesten. Die fünf grössten Städte, Sydney, Melbourne, Brisbane, Perth und Adelaide, vereinigen beinahe zwei Drittel der Gesamtbevölkerung auf sich. Insgesamt leben etwa 85 Prozent der Australier in Städten, die sich überwiegend entlang der Küsten befinden. Das Landesinnere ist hingegen weitgehend unbewohnt, ja unbewohnbar.

Diese Geografie erklärt denn auch, warum immer mehr Australier Platzangst entwickeln. Dabei gäbe es jenseits aller Wüsten durchaus genügend Raum für eine deutlich grössere Population. Woran es hingegen mangelt, ist eine Strategie der australischen Politik, mit den Herausforderungen des Wachstums umzugehen. So benötigen die Züge für die Strecke zwischen den beiden grössten Städten des Bundesstaates Neusüdwales, Sydney und Newcastle, heute sogar einige Minuten länger als in den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Das Wasser wird nicht in erster Linie wegen der Zuwanderer knapp, sondern wegen der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Wasserinfrastruktur. Die Hauspreise sind auch deswegen in die Höhe geschossen, weil es den australischen Landesregierungen nicht gelungen ist, genügend Bauland am Rande der Städte auszuweisen.

Die Australier hätten gute Gründe, die politische Klasse für ihr chronisches Versagen bei der Gestaltung und Lenkung des Wachstums der australischen Metropolregionen verantwortlich zu machen. Doch diese lenkt geschickt von eigenen Fehlern ab, indem sie eine Reduzierung der Einwandererzahlen verspricht. Dabei bietet das Bevölkerungswachstum für Australien deutlich mehr Chancen als Risiken. Am Ende der schwersten globalen Wirtschaftskrise seit langem beträgt die Arbeitslosenquote in Down Under knapp über 5 Prozent. Die Wirtschaft wächst wieder so stark, dass die australische Zentralbank den Leitzins von derzeit 4,5 Prozent wohl weiter anheben muss. Im Infrastrukturbereich schlummern gigantische Investitionspotenziale. Bei Licht betrachtet wären dies beste Voraussetzungen für einen lange anhaltenden Boom Australiens. Doch statt die Gelegenheit beim Schopf zu fassen, überbieten sich australische Politiker in billiger Anti-Einwanderer- und Anti-Wachstums-Rhetorik. Bleibt zu hoffen, dass sie nur bis zum Wahltag am 21. August anhält und dann genauso schnell verschwindet, wie sie gekommen ist.

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