Australien – ein besseres Europa?

Published in Neue Zürcher Zeitung (Zurich), 28 June 2011 (PDF)
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/australien__ein_besseres_europa_1.11081038.html

Als “Verbrecherkolonie” in Beschlag genommen, hat der fünfte Kontinent in vieler Hinsicht Erfolgsgeschichte geschrieben

Australien und Europa, das ist eine lange Geschichte von Analogien und Kontrasten. Wer als Europäer das ferne Australien besucht, ist zunächst überrascht von der Vertrautheit des dort Vorzufindenden. Das Gefühl, in Australien Neuland zu betreten, stellt sich erst später ein.

Das Zusammentreffen von Ähnlichkeiten und Gegensätzen zu Europa macht einen guten Teil vom Reiz Australiens aus. In mancherlei Hinsicht ist Australien ein Spiegelbild Europas; andererseits hält es ebendiesem Europa den Spiegel vor.

Der erste Eindruck von Australien klingt bei Friedrich Christmann eher enttäuscht. Nach langer Überfahrt endlich im australischen Melbourne angekommen, will der deutsche Gelehrte seine neue, vermeintlich exotische Heimat erkunden. Und dann das: “Hundertmal wol (sic!) hatte ich mir schon vorgesagt, dass alle Grossstädte einander ähnlich sehen, wo sie auch immer liegen mögen; dennoch hatte ich im Stillen gehofft, hier, im fünften Welttheile, etwas Fremdartiges, etwas ‘Australisches’, zu finden, – vergeblich!”

Die sorgfältigen Vorbereitungen auf sein neues Leben: offenbar unnötig. Alle verfügbare Literatur zu Australien hatte der Reisende noch in Europa und an Bord des Dampfers “Kandia” gewissenhaft ausgewertet. Doch vor Ort nun muss er feststellen, dass er bloss in einem neuen Teil Englands gelandet ist. Die Strassen, die Leute, die Häuser und selbst sein Gasthof: Laut Christmanns Schilderungen ist alles “englisch, aber nicht theuer”. Immerhin. Auch sonst reibt sich der Neuankömmling die Augen: “In den Bahnhöfen dasselbe Leben und Treiben, wie im alten Europa, und dieselben zudringlichen Zeitungsverkäufer, nur dass sie statt der ‘Kölnischen’, der ‘Neuen Frankfurter Zeitung’ oder des ‘Journals’ den ‘Argus’, ‘Herald’ und ‘Age’ anbieten.” Sogar eine deutschsprachige Wochenzeitschrift mit dem Titel “Germania” findet er in Melbourne. All diese Impressionen sind festgehalten in “Australien: Geschichte der Entdeckungsreisen und der Kolonisation”. Wie die Sprache schon verrät, stammen sie aus dem Jahr 1870 und schildern einen Besuch auf dem fünften Kontinent in den späten 1860er Jahren.

Pragmatismus und Offenheit

Heutige Australien-Reisende dürften sich bei der Lektüre der stark vergilbten Seiten wundern, wie vertraut die Beschreibungen erscheinen. Australien besteht noch immer aus denselben fünf grossen Städten wie damals. In Sydney, Melbourne, Brisbane, Perth und Adelaide lebten damals wie heute etwa zwei Drittel aller Einwohner des Kontinents. Die Städte sind zwar inzwischen stark gewachsen, aber die Grundrisse ihrer Zentren haben sich kaum verändert. Die Strassennamen sind ebenso erhalten geblieben wie die Zeitungen “Herald” und “The Age”, die bis auf den heutigen Tag erscheinen.

Nationale Stereotype sind weitere Konstanten über die Jahrhunderte. In seinem Buch schildert Christmann die Begegnung mit einem Familienvater, dessen Kindern der deutsche Lehrer eigentlich Privatunterricht erteilen soll. Die beiden Männer können sich jedoch nicht auf die Lehrinhalte verständigen. Der Deutsche will höhere Bildung vermitteln, der Australier seinen Nachwuchs vor allem auf das Geschäftsleben vorbereitet wissen. Daraufhin spottet der Deutsche über den ignoranten Australier, der ihn wiederum einen Ideologen nennt. Wenn das nach wie vor vertraut klingt, dann vor allem deshalb, weil das Praktische den Australiern bis heute erhalten geblieben ist. Das Oberlehrerhafte den Deutschen aber wohl auch.

Der grösste Unterschied zwischen damals und heute dürfte die Anreise sein, die auf halbwegs erträgliche 24 Stunden geschrumpft ist. Landet man dann etwa am Flughafen Kingsford Smith in Sydney, bemerkt man erst einmal keinen Unterschied zu Europa. Gewöhnungsbedürftig sind höchstens die Spürhunde, die jedes einzelne Gepäckstück nach Drogen und Lebensmitteln beschnüffeln, denn die Einfuhrbestimmungen des Inselkontinents sind viel strenger als irgendwo in Europa.

Auf der Fahrt in Richtung Innenstadt wähnt man sich zunächst in Londoner Vororten. Doch beim Vorbeiflug von Kakadus und beim Anblick von Palmen und spätestens bei der Fahrt durch das mit seinen steilen Stahl- und Glasfassaden eher amerikanisch anmutende Stadtzentrum beschleicht den Besucher eine merkwürdige Ahnung. Europäisch mag es hier ja zugehen. Aber es fühlt sich doch ganz anders an.

Australien ist so, wie Europa immer gerne sein will: wirtschaftlich erfolgreich, modern, lebensfroh, offen, multikulturell. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass all dies den Australiern viel besser gelingt als den Europäern. Ist Australien vielleicht gar das bessere Europa? Wenn dem so wäre, dann wäre es zumindest eine feine Ironie der Geschichte. Dass Australien überhaupt für die britische Krone in Besitz genommen wurde, verdankt es schliesslich vor allem der Tatsache, dass die Briten einen Ort benötigten, um sich ihrer Strafgefangenen zu entledigen. Ein “Zuchthaus im Urwalde”, wie es Friedrich Christmann nannte.

Australische Geschichtsschreiber weisen zwar gerne darauf hin, dass es bei dem Unterfangen auch um den Ausbau des Empire gegangen sei. Dies ändert freilich wenig an der Tatsache, dass die “First Fleet”, die den Hafen von Sydney im Januar 1788 erreichte, aus Sträflingen und ihren militärischen Aufsehern bestand. Das Strafmass “Australien” war kaum milder als ein Todesurteil, denn es bedeutete für die meisten der Deportierten praktisch die lebenslange Verbannung aus ihrer britischen Heimat. Umso erstaunlicher, dass sich Neusüdwales, so der Name der ersten Kolonie, sehr schnell zu einem fortschrittlichen Gemeinwesen entwickelte. Die entscheidenden Weichenstellungen dafür sind in der frühen Kolonialgeschichte zu finden. Statt zu einem Urwaldgefängnis wurde Neusüdwales nämlich zu einem sozialen Freiluftexperiment. Die Folgen wirken bis heute fort.

An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert war Australien für Europäer nicht weniger exotisch als der Mars, wie es der Historiker Niall Ferguson einmal formulierte. Allein die Ferne von der britischen Heimat sorgte dafür, dass sich die Sträflinge und ihre Aufseher in der unvertrauten Natur miteinander arrangieren mussten. So entstand eine Gesellschaftsordnung, die sich in einigen Punkten deutlich von jener Europas unterschied. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst des Schotten Lachlan Macquarie. Als Gouverneur von Neusüdwales hatte er quasi uneingeschränkte Befugnisse über die Kolonie, aber er nutzte sie im Stile eines wohlwollenden Diktators. Militär, Siedler, Gefangene und ehemalige Sträflinge wurden von ihm gleich behandelt – wahrscheinlich gleicher, als es ihnen jemals in ihrer britischen Heimat widerfahren wäre.

Die Emanzipationsbewegung der Gefangenen erreichte unter Macquarie, der von 1810 bis 1821 im Amt war, einen frühen Höhepunkt. Macquarie berief einen in England verurteilten Fälscher zum Staatsarchitekten und machte einen ursprünglich zum Tode verurteilten Meuterer zu seinem Leibarzt. Die grandiosen Kolonialbauten des Fälschers Francis Greenway sind immer noch in Sydney zu bewundern; und nach dem meuternden Arzt William Redfern wurde gleich ein ganzer Stadtteil benannt. In England hingegen wäre ein solches Aufbrechen von Klassengegensätzen undenkbar gewesen. Aus der damaligen Zeit stammen die grundlegenden Eigenschaften, die Australien bis heute erhalten geblieben sind. Der fünfte Kontinent wurde zur Modellwerkstatt einer besseren Welt, in der sich radikaler Egalitarismus und prinzipieller Pragmatismus vereinigen.

Sicher stand Australien damit in der Neuen Welt nicht allein. Doch anders als etwa in Amerika gab es in Australien keine Revolutionen oder Unabhängigkeitsbewegungen, sondern ganz im Gegenteil eine stabile staatliche Ordnung, die sich von Grossbritannien ableitete. Die einzige (und zudem noch unblutige) Rebellion in der jungen Kolonie endete daher auch nicht mit der Loslösung vom Mutterland, sondern nur mit der vorübergehenden Absetzung des umstrittenen Gouverneurs William Bligh. Auf ihn folgte ebenjener Lachlan Macquarie, der heute als Vater Australiens gilt.

Bindung an Grossbritannien

Das australische Experiment fand innerhalb des Britischen Empire statt, und daran änderte auch die Gründung des australischen Bundes im Jahr 1901 nichts. Australien hatte es mit der Loslösung von Grossbritannien ohnehin nicht eilig. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert sahen sich die Bewohner in erster Linie als Briten; die Abschaffung der letzten Berufungsmöglichkeiten bei britischen Gerichten erfolgte erst 1986. Aber die Queen ist immer noch Staatsoberhaupt Australiens und ihr Geburtstag ein nationaler Feiertag, der wahlweise bei eiskaltem Victoria Bitter zum Barbecue oder bei Devonshire-Tea and Scones begangen wird. Ein Referendum über die Republik scheiterte 1999.

Die Kehrseite der Medaille eines britischen Australien bestand allerdings lange in einer extrem rassistischen Einwanderungspolitik. Den Traum von einem Arbeiterparadies auf australischem Boden glaubte man nur dadurch verwirklichen zu können, alles Fremde davon auszuschliessen. Dazu gehörten auch die Ureinwohner. Sie mussten bis 2007 warten, ehe sich ein australischer Premierminister förmlich für das ihnen zugefügte Unrecht entschuldigte. Heute lebt zwar die Mehrzahl der Aborigines in den Städten, wo viele von ihnen gewöhnlichen Berufen nachgehen. Aber daneben existieren in ländlichen Regionen Aborigine-Siedlungen, die von mangelnder Bildung, Alkoholismus, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit geprägt sind. Der Umgang mit seinen Ureinwohnern wirft immer noch einen Schatten auf Australien.

Der grosse österreichische Ökonom Ludwig von Mises schrieb im Jahr 1927, es sei kaum anzunehmen, dass die Australier “die Einwanderung nicht der englischen Nation angehöriger Europäer freiwillig gestatten werden”. Gänzlich ausgeschlossen sei es, dass “sie auch den Asiaten gestatten sollten, Arbeit und Niederlassung in ihrem Erdteil zu suchen”. Wenn sich selbst ein Erzliberaler wie Mises nicht vorstellen konnte, dass sich Australien zu einem nichtbritischen Einwanderungsland entwickeln könnte, ist das ein Beleg dafür, wie unumstösslich die “White Australia”-Politik erschien.

Tatsächlich wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg aber schrittweise gelockert und in den 1970er Jahren abgeschafft. Es ist wiederum bezeichnend für Australien, wie radikal und erfolgreich diese Kehrtwende in der Einwanderungspolitik in der Folge vollzogen wurde. Und auch, dass dies allen Befürchtungen zum Trotz friedlich und weitgehend konfliktfrei geschah.

Dass Australien heute als multikulturelles Vorbild gilt, verdankt es wiederum seinen nationalen Grundeigenschaften Egalitarismus und Pragmatismus. Als die Öffnung des Landes beschlossen war, wurde ganz pragmatisch darauf geachtet, dass die Einwanderer zu Australien passen und sich in seine Gesellschaft einfügen. Sprachkenntnisse und Berufsabschlüsse wurden verlangt, ein Punktesystem regelte die Auswahl. Waren die Einwanderer aber erst einmal in Australien, wurden sie schnell akzeptiert und integriert. Der australische Historiker John Hirst schreibt, es sei unvorstellbar, dass italienische Einwanderer bei ihrer Ankunft im britischen Dover als “neue Engländer” bezeichnet worden wären. In Australien jedoch gab die Bundesregierung für die Zuwanderer nach dem Zweiten Weltkrieg die Bezeichnung “New Australians” aus.

Das glückliche Land

Das Ergebnis der gleichermassen grossen wie gesteuerten Einwanderungswelle ist ein Australien, in dem heute ein Viertel der Bevölkerung im Ausland geboren wurde und fast die Hälfe einen im Ausland geborenen Elternteil hat. Dabei sind Australiens Bewohner mit Migrationshintergrund hinsichtlich ihres Bildungsgrads, ihrer Kriminalitätsrate oder auch ihrer Arbeitsmarktpartizipation wenig von Einheimischen zu unterscheiden. Im Zweifelsfall schneiden sie sogar eher besser ab als die “old Australians”.

Australien, das “lucky country” (Donald Horne), widerstand der Versuchung, sich zu einer Kopie Europas zu entwickeln. Stattdessen erwuchs aus seinen europäischen Wurzeln ein eigenständiges Gesellschaftsmodell, das in mancherlei Hinsicht besser funktioniert als das europäische Original. Dennoch trifft die Schlussfolgerung Friedrich Christmanns, obwohl schon über 140 Jahre alt, nach wie vor zu: dass nämlich “bei all diesen gewiss in hohem Grade durch ihre Grossartigkeit überraschenden Verhältnissen …Australien noch ein in vielen Beziehungen wenig bekanntes Land” in Europa geblieben ist.

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