Australiens Party ist vorbei

Published in Basler Zeitung (Basel), 13 January 2015 (PDF)

Nichts ist so gefährlich wie dauerhafter Erfolg; Australien ist das beste Beispiel. Nach über zwei Jahrzehnten kontinuierlichen Wachstums realisieren die Australier derzeit schmerzlich, welche Fehler und Versäumnisse sie im Aufschwung gemacht haben. Schlimmer noch: Sie müssen zusehen, wie ihre neuseeländischen Nachbarn ihnen punkto Wettbewerbsfähigkeit davonziehen. Dabei könnten sie gerade von Neuseeland und seiner Regierung lernen, wie Reformen heutzutage funktionieren.

Noch vor wenigen Jahren galt Australien als ökonomisches Musterland. Tief greifende Strukturreformen in den 1980er- und 1990er-Jahren hatten den Fünften Kontinent von einem Hinterzimmer der Weltwirtschaft in eine boomende Wirtschaftsregion verwandelt. Die steigende Rohstoffnachfrage asiatischer Schwellenländer tat ein Übriges für die Minenindustrie des Landes, seinen Arbeitsmarkt und die Staatsfinanzen. Die frühen Jahre des 21. Jahrhunderts waren für Australien eine Zeit des Wirtschaftswunders. Die Arbeitslosenquote ging Anfang 2008 auf gerade einmal vier Prozent zurück. Bereits im Jahr 2006 hatte die australische Bundesregierung ihre Schulden komplett beglichen, und das jährliche Wirtschaftswachstum lag konstant zwischen drei und vier Prozent.

Vom ansteckenden Optimismus dieser Boomjahre ist in Australien heute kaum noch etwas zu spüren. Zwar wächst die Wirtschaft noch (und dies immerhin im 24. Jahr), wenn auch mit geringeren Wachstumsraten. Aber die Arbeitslosenquote ist auf über sechs Prozent angestiegen, der Staatshaushalt wird auf absehbare Zeit im Defizit verharren, und die Preise für Australiens Exportgüter gegenüber den Importpreisen (die sogenannten Terms of Trade) sind geradezu kollabiert. Schon ist in Australiens Medien von einer aufkommenden Wirtschaftskrise die Rede, und einige Analysten sehen gar die Möglichkeit einer Rezession in den kommenden Jahren.

Das Einzige, was vom Wirtschaftsboom blieb, sind seine negativen Begleiterscheinungen. Dazu gehören insbesondere ein aufgeblähter Immobilienmarkt, der zu den am wenigsten erschwinglichen der Welt gehört, sowie eine ebenso übertriebene Lohnstruktur, in der selbst Lastwagenfahrer Einkommen erzielen können, die anderswo noch nicht einmal Universitätsprofessoren erreichen.

Um die australische Krise zu verstehen, muss man den vorangegangenen Aufschwung betrachten. Die grossen Reformen unter Premierminister Bob Hawke und seinem Finanzminister (und Nachfolger) Paul Keating fanden ab Mitte der 1980er-Jahre statt. Sie beendeten ein Jahrhundert des korporatistischen Konsenses, welcher heimische Firmen durch Zölle und andere Handelshemmnisse vor internationaler Konkurrenz geschützt hatte. Gleichzeitig wurde der Wechselkurs des australischen Dollars freigegeben, was nicht nur bei der Bekämpfung der Inflation half, sondern ebenfalls den Wettbewerbsdruck auf Australiens Wirtschaft erhöhte.

Die wirtschaftspolitische Öffnung des Landes war notwendig – und sie legte den Grundstein für einen langen Wirtschaftsboom. Allerdings war die praktische Reformerfahrung durchaus traumatisch, denn sie ging einher mit industriellen Umwälzungen. In deren Folge verlagerten sich Arbeitsplätze und ganze Industrien ins Ausland. Es ist wohl diesen Begleitumständen zu verdanken, dass das Wort «Reform» bis heute einen bitteren Beigeschmack in politischen Debatten behalten hat.

Die letzte der grossen australischen Reformen stammt aus dem Jahr 2000. Damals wurde eine Reihe von Verkaufssteuern durch eine allgemeine Umsatzsteuer (die Goods and Services Tax, GST) ersetzt. Diese Steuervereinfachung wurde bereits unter den sozialdemokratischen Regierungschefs Hawke und Keating diskutiert, aber erst von ihrem konservativen Nachfolger John Howard umgesetzt.

Mit der Einführung der GST endete die Zeit der wirtschaftspolitischen Strukturreformen, obwohl es durchaus noch weiteren Reformbedarf gegeben hätte. Die fiskalischen Beziehungen zwischen Bund und Ländern, das komplizierte Einkommensteuerrecht oder auch die überbordende australische Bürokratie hätten sich gut für weitere Modernisierungen geeignet. Allein: Sie fanden nicht statt.

Zu Beginn des Jahrhunderts, nach 17 Jahren Dauerreform, hatten die Australier erst einmal genug von grösseren Umwälzungen. Der einsetzende Rohstoffboom bescherte darüber hinaus ein wirtschaftliches Umfeld, das quasi automatisch für Jobs und Wachstum sorgte. Wozu dann noch die Mühsal wirtschaftlicher Veränderungen auf sich nehmen, wo es doch auch ohne sie zu gehen scheint?

Die australische Politik von der Jahrhundertwende bis zur Weltfinanzkrise beschränkte sich im Wesentlichen darauf, den Erfolg des Landes zu verwalten und dessen Erlöse zu verteilen. Zwar wurden, wie bereits erwähnt, unter Howards Regierung die Staatsschulden zurückgezahlt. Finanzpolitisch wäre dennoch mehr möglich gewesen, denn die sprudelnden Steuereinnahmen wurden nicht etwa zum Anlass für Steuersenkungen genommen, sondern in den Ausbau des Sozialstaats gesteckt. Zu Recht wurde Howard daher von liberalen Kommentatoren wie Andrew Norton als «sozialdemokratischer Konservativer» bezeichnet. Ein marktliberaler Reformer war er jedenfalls kaum.

Ironischerweise wurde Howard 2007 von einem Sozialdemokraten abgelöst, der sich selbst zunächst als einen «Fiskal-Konservativen» bezeichnete: Kevin Rudd. Doch dessen Versprechen, wieder vermehrt auf Ausgabendisziplin zu achten, währte nur bis zur Weltfinanzkrise, die ein Jahr später einsetzte. Von diesem Moment an gab es in der australischen Finanzpolitik kein Halten mehr.

Die Rudd-Regierung nahm die Krise zum willkommenen Anlass für wirtschaftspolitischen Aktionismus. Australische Haushalte wurden mit Checks beglückt, angeblich um die Nachfrage zu stimulieren. Schulen erhielten selbst dann neue Turnhallen, wenn sie eigentlich keine benötigten. Halb verlassene Dörfer in der Provinz bekamen Spielplätze als Arbeitsbeschaffungsmassnahme, auch wenn dort kaum mehr Kinder lebten. Ein gigantisches Hausdämmungssprogramm wurde so dilettantisch durchgeführt, dass es bei der Installation des Materials reihenweise zu Hausbränden kam, teilweise mit Todesfolge.

Nein, Untätigkeit konnte man der Regierung von Kevin Rudd wahrlich nicht vorwerfen. Wohl aber, dass sie sich besser darauf verstand, vorhandenes wie nicht vorhandenes Geld auszugeben, anstatt sich um Australiens strukturelle Probleme zu kümmern. Australiens «Reform-Urlaub», wie ihn australische Kommentatoren inzwischen getauft hatten, setzte sich auch unter Rudd und seiner Nachfolgerin Julia Gillard fort.

Der aktuelle Premierminister Tony Abbott, der seit gut einem Jahr im Amt ist, sieht sich demnach mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Während sich das Wirtschaftswachstum bei Australiens wichtigstem Handelspartner China abkühlt, sind die Rohstoffpreise auf breiter Front eingebrochen. Durch den Reformstillstand der vergangenen anderthalb Jahrzehnte hat Australien zudem an internationaler Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst.

Hinzu kommt, dass die politische Konstellation das Regieren für Abbotts Liberal Party schwierig macht. Er verfügt nur im Repräsentantenhaus über eine Mehrheit, nicht jedoch im Senat, wo er auf die Stimmen von unabhängigen Senatoren und eher populistischen Kleinparteien angewiesen ist. Einen Befreiungsschlag mit Neuwahlen für beide Kammern des Parlaments kann Abbott nicht wagen, denn seine eigenen Umfragewerte sind miserabel.

Die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse wären für sich genommen schon schwierig genug. Zum politischen Himmelfahrtskommando werden sämtliche Reformbestrebungen allerdings durch eine mediale Landschaft, die durch Polarisierung und Sensationalismus geprägt ist. Zu den politischen Bestsellern der vergangenen Jahre gehören Bücher wie «Sideshow», in dem sich der frühere Finanzminister Lindsay Tanner bitterlich über die Verflachung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Debatten beklagt. Der Druck, jederzeit und an jedem Ort ein knackiges, 30-sekündiges Soundbite für die nächste Nachrichtensendung abliefern zu können, erlaube keine sachorientierten, langfristig angelegten Politikkonzepte mehr, so Tanner.

Australien steckt somit gleich in mehrfacher Hinsicht in einer Sackgasse. Sein lange erfolgreiches Wirtschaftsmodell, das auf Rohstoffexporten beruhte, trägt nicht mehr. Das Land bräuchte dringend Impulse und Veränderungen, deren Realisierung jedoch niemand ernsthaft erwartet. Jenes Land, das in den 1980er-Jahren ein leuchtendes Vorbild für Wirtschaftsreformen war, hat den Glauben an sich und seine Reformfähigkeit verloren.

Während Australien gleichsam in wirtschaftspolitischer Melancholie versinkt, ist drei Flugstunden östlich von Sydney eine ganz andere Entwicklung zu beobachten. Neuseeland hat nicht nur eine erfolgreiche und reformorientierte Regierung. Premierminister John Key ist im September 2014 zudem bereits zum dritten Mal gewählt worden. Mehr noch, ihm gelang dabei das Kunststück, seine Mehrheit nach sechs Jahren im Amt sogar noch auszubauen. Mit einiger Verwunderung blicken australische Kommentatoren daher über die Tasmansee.

Dass Neuseeland sich anschickt, Australien wirtschaftlich zu überflügeln, lässt sich bereits am Wechselkurs ablesen. Noch vor drei Jahren mussten 1.29 Neuseeland-Dollar für einen australischen Dollar gezahlt werden. Derzeit liegt der Kurs bei 1.05 Dollar, und selbst eine Parität der beiden Währungen scheint möglich.

Vor zwei Jahren überholte Neuseeland erstmals Australien beim Wettbewerbsfähigkeitsranking des World Economic Forum. Bei den Rankings für wirtschaftliche Freiheit wiederum rangiert Neuseeland mittlerweile regelmässig auf Platz drei hinter Hongkong und Singapur, während sich Australien mit einem Platz im oberen Mittelfeld begnügen muss.
Dass Neuseeland sich so dynamisch entwickeln konnte, ist durchaus erstaunlich. Die Weltfinanzkrise hatte das Land stärker getroffen als Australien. Es partizipierte auch lange nicht so sehr am asiatischen Aufschwung wie sein australischer Nachbar. Nicht zuletzt hatte Neuseeland die Erdbebenkatastrophe von Christchurch zu bewältigen, in der Teile der drittgrössten Stadt des Landes schwer beschädigt wurden. Die Kosten des Wiederaufbaus werden auf etwa ein Fünftel der Wirtschaftsleistung geschätzt.

Trotz solch widrigen Umständen ist die neuseeländische Arbeitslosigkeit niedriger und das Wirtschaftswachstum höher als in Australien. Noch erstaunlicher: Während der australische Haushalt im Perma-Defizit versinkt, könnte Neuseeland im nächsten Jahr bereits wieder Haushaltsüberschüsse verzeichnen.

Ein Gutteil dieses neuseeländischen Erfolgs ist das Verdienst der Key-Regierung. Sie hat es geschafft, mit Umsicht und Geduld ihr Land durch ein schwieriges gesamtwirtschaftliches Umfeld zu führen. Sie nutzte Möglichkeiten der Handelsliberalisierung und baute die Wirtschaftsbeziehungen zu Asien systematisch aus. Sie widerstand der Versuchung, der Finanzkrise mit schuldenfinanzierten Konjunkturprogrammen zu begegnen. Stattdessen setzte Finanzminister Bill English auf haushaltspolitische Disziplin, gepaart mit einer strategischen Absenkung der Einkommensbesteuerung (der Spitzensteuersatz liegt bei 33 Prozent). Nicht zuletzt gelangen eine Reform des Sozialstaats, die Teilprivatisierung einstiger Staatsbetriebe sowie die Einführung neuer Schulen in freier Trägerschaft.
Bei der Durchsetzung dieser Reformen setzte Neuseelands Premierminister Key auf langfristige Überzeugungsarbeit. Keine der Massnahmen seiner Regierung traf die neuseeländische Bevölkerung unvorbereitet. Durch unabhängige Arbeitsgruppen und Regierungskommissionen wurden Reformvorhaben sorgsam geplant, bevor sie der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Auf diese Weise gelang es Key, selbst mit vermeintlich unpopulären Reformen wie jenen im Sozialbereich zu punkten.

Während Australien sich auf seinen Reform-Lorbeeren ausruhte, haben die Neuseeländer erfolgreich einen neuen Modernisierungspfad beschritten. Die Australier müssen es ihnen nun nachtun, wenn sie eine erfolgreiche Nation in der vom Pazifik geprägten Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts bleiben möchten.

Oliver Hartwich ist geschäftsführender Direktor des Wellingtoner Thinktanks The New Zealand Initiative und Adjunct Scholar am Centre for Independent Studies in Sydney. Sein Essay «Quiet Achievers: The New Zealand Path to Reform» erschien jüngst bei Connor Court, Melbourne.