Neuseelands Politik der Panik

Published in Weltwoche (Zurich), 20 May 2020 (PDF)

Kaum ein Land hat in der Corona-Krise so positiv auf sich aufmerksam gemacht wie Neuseeland und seine Premierministerin Jacinda Ardern. Sie wurde dafür gefeiert, wie souverän sie das Virus besiegt hat. Bei genauem Blick entpuppt sich das Wunder als Medienhype. Von Oliver Hartwich

«Team Neuseeland» habe geschafft, woran Deutschland noch arbeite, schrieb die Welt. In der Financial Times war zu lesen, das virusbefreite Neuseeland sei nun eine attraktive Alternative zu New York und London. Und das amerikanische Magazin The Atlantic nannte Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern, 39, gar die effektivste Staatschefin der Welt.

Solche Beweihräucherungen finden in Neuseeland stets mehr Beachtung als in den Ländern, in denen sie publiziert wurden. Nach nichts dürstet die Kiwi-Seele mehr als nach Lob von aussen, wo man sonst oft auf Weltkarten vergessen wird. Es gibt da allerdings einen Schönheitsfehler in der Geschichte vom desinfizierten Neuseeland und seiner tapferen Premierministerin. Sie stimmt so nämlich nicht.

Fangen wir mit dem wahren Kern des Medienhypes um Neuseeland an. Tatsächlich ist es Neuseeland gelungen, die Zahl der Infektionen zu reduzieren. Sie liegt derzeit nahe null. Erreicht wurde dies mit einem der drakonischsten Lockdowns der Welt. Die Bekämpfung des Virus ist ein Erfolg. Aber es lohnt sich, genauer hinzusehen.

Neuseeland hatte es leichter als andere Länder, auf das Virus zu reagieren. Die Bevölkerung von fünf Millionen Einwohnern verteilt sich auf einer Fläche, die etwa jener Italiens entspricht. Mit Ausnahme Aucklands gibt es keine Millionenstädte.

Der entscheidende Vorteil Neuseelands ist seine Lage: Der Pazifik ist ein grosser Wassergraben, der nächste Nachbarstaat Australien über drei Flugstunden entfernt. Diese Abgeschiedenheit verschaffte zudem einen Zeitvorsprung. Während in China, Italien und dem Iran bereits Epidemien ausbrachen, gab es in Neuseeland keinen einzigen Covid-19-Fall. Die Corona-Krise fand nur im Fernsehen statt.

Doch dann ging es in Neuseeland plötzlich ganz schnell. Bei gerade einmal 102 Infektionen gab Premierministerin Ardern am 25. März bekannt, das Land für einen Monat stillzulegen. Bis auf Supermärkte waren plötzlich alle Einrichtungen, Geschäfte und Behörden geschlossen. Kontakte ausserhalb des eigenen Haushalts waren untersagt. Man durfte seinen Stadtteil nicht verlassen, nicht im Meer baden und erst recht nicht Mountainbike fahren. Es galt Hausarrest für alle. Polizei und Armee standen zur Durchsetzung der Massnahmen bereit. Für Zuwiderhandlungen wurde eine Denunzianten-Hotline eingerichtet. Es war nicht ganz so liberal, wie man sich Neuseeland normalerweise vorstellt.

Eigentlich kein Wunder, dass die Infektionsrate bei diesen Massnahmen schnell gen null ging. Aber das tat sie in Australien auch, obwohl die Australier ihr öffentliches Leben längst nicht so drangsalierten wie ihre neuseeländischen Nachbarn. In Sydney konnte man immer noch in Einkaufszentren shoppen und sich die Haare schneiden lassen.

Australien erreichte mit deutlich geringeren Eingriffen ein besseres Ergebnis als Neuseeland, sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich. Nur erhielt der konservative australische Premier Scott Morrison dafür längst nicht so viel internationales Lob wie seine progressive Amtskollegin Ardern. Nun kann man sich fragen, warum Neuseeland im März dermassen überreagiert hat. Dafür gibt es eine gute Erklärung. Die Regierung in Wellington hat nämlich Dokumente veröffentlicht, die belegen, wie prekär die Lage war. Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass die Gesundheitsbehörden ausserstande waren, auf Covid-19 weitflächig zu testen oder bestehende Fälle nachzuverfolgen. Es fehlte an den grundlegenden Kapazitäten für Katastrophenschutz. Selbst über die Zahl der Beatmungsgeräte und die Verfügbarkeit von Schutzkleidung gab es keine genauen Informationen.

Die Entscheidung zum Lockdown war somit keine mutige Attacke auf das Virus. Es war vielmehr das Eingeständnis eines inadäquaten Gesundheitssystems. Im Gegensatz zu Australien übrigens, wo man auf solche Umstände wesentlich besser vorbereitet war.

Das wäre nun alles noch einigermassen zu ertragen gewesen, wenn der Lockdown zumindest handwerklich gut organisiert gewesen wäre. Das war er aber nicht. Es bestehen massive Zweifel, ob die neuseeländische Regierung überhaupt eine Rechtsgrundlage für ihre Massnahmen hatte. Das Appellationsgericht erlaubte dem Sohn eines im Sterben liegenden Vaters, diesen trotz der Kontaktsperren zu besuchen. Dabei erklärte das Gericht, was es von der Legalität des Lockdowns hielt, nämlich nichts.

Die Regierung wiederum verhält sich politisch und zynisch. Letzten Freitag, kurz vor dem Wochenende, veröffentlichte sie einen Stapel an peinlichen Details zum Lockdown, um dem Informationsfreiheitsgesetz zuvorzukommen. Gleichzeitig wies Ardern das Kabinett an, dazu keine Interviews zu geben.

Während der Rest der Welt noch glaubt, dass Ardern eine begnadete Regierungschefin ist, schält sich in Neuseeland ein ganz anderes Bild heraus. Wir haben es mit einer ganz gewöhnlichen Politikerin zu tun. Aber sie ist aussergewöhnlich charismatisch.