Neoliberalismus als Heimatkunde

Published in Die Welt, 26 June 2007 (PDF)
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Der Liberalismus ist den Deutschen nicht fremd. Er hat eine Tradition, allen Brandmarkungen und Denunziationen zum Trotz. Auch Wilhelm von Humboldt gehörte zu den großen Liberalen. Der Sozialist Ferdinand Lasalle jedoch brandmarkte den Liberalismus als “Manchestertum”. Von dieser Etikettierung hat sich der deutsche Liberalismus bis heute nicht erholt.

Als Nicolas Sarkozy kürzlich gefragt wurde, ob er die französische Version der wirtschaftsliberalen Margaret Thatcher sei, erhielt der Interviewer eine kleine Nachhilfestunde in ökonomischer Ideengeschichte. Nein, ein Nachfolger Thatchers sei er nicht, sagte der französische Präsident, aber Thatcher stehe doch selbst in der Tradition großer französischer Denker wie Jean-Baptiste Say. Auch wenn er also gelegentlich mit der Eisernen Lady in Verbindung gebracht werde, so bliebe er doch ganz und gar Franzose, signalisierte Sarkozy. Nicht britische Ideen inspirierten die französische Politik, sondern französische Denker die britische. Die Würde der Grande Nation war damit gerettet.

Wäre der Reporter etwas schlagfertiger gewesen, hätte er den Präsidenten allerdings daran erinnern können, dass der Ökonom Jean-Baptiste Say vor allem als Popularisierer der Ideen Adam Smith’ in Erscheinung getreten war – und der war bekanntlich Schotte. Aber auch dies hätte Monsieur Sarkozy nicht aus der Ruhe bringen müssen, schließlich war doch Adam Smith selbst von der Physiokratie um François Quesnay, dem Leibarzt der Madame Pompadour, maßgeblich beeinflusst worden. Und somit stehe es dann immer noch 2:1 für Frankreich.

An der Episode um den französischen Präsidenten kann man eines klar erkennen: Es dürfte kaum möglich sein, dem Liberalismus oder auch nur dem sogenannten Wirtschaftsliberalismus eine eindeutige Heimat zu geben. Umso erstaunlicher, dass dies immer wieder versucht wird, nicht nur in Frankreich.

Auch in Deutschland werden die Ursprünge der Ideen des Freihandels und freier Märkte oft in Großbritannien oder Amerika vermutet. Vom „angelsächsischen Kapitalismus“ ist dann die Rede oder – abwertend und in der Regel wenig differenziert – vom „Turbokapitalismus“ oder schlicht „Neoliberalismus“. Als die Mitgliederzeitschrift der IG Metall etwa mit der Heuschreckendebatte auf ihrer Titelseite aufmachte, wurde das Insekt mit einem Hut aus Stars and Stripes abgebildet. Zur Irritation der SPD-Linken genügte einst schon die Tatsache, dass ihr damaliger Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem Briten-Premier Tony Blair ein gemeinsames Papier herausgab. Damit verbunden ist die – allerdings kaum je offen ausgesprochene – Vermutung, dass alles Liberale letztlich eine angloamerikanische und mit deutschen Verhältnissen kaum zu vereinbarende Erscheinung sei.

Diese Sichtweise ist in der Tat nicht neu, aber dadurch wird sie nicht richtiger. So wie es auch in der französischen Geschichte an liberalen Denkern nicht mangelt (Sarkozy könnte noch Anne Robert Jacques Turgot, Michel Chevalier oder Alexis de Tocqueville nennen), so gab es auch in Deutschland zahlreiche liberale Gelehrte und Politiker, deren Wirken durchaus dem Vergleich mit den Größen etwa des englischen Liberalismus standhält.

Der Liberalismus hat in Deutschland Tradition, auch wenn er heute kaum im kollektiven Bewusstsein präsent ist. Das mag allerdings auch etwas über die Prädispositionen der akademischen Intellektuellen aussagen, die sich lieber zum hundertsten Mal mit den Verästelungen des sozialdemokratischen Revisionismus des 19. Jahrhunderts befassen, statt sich liberalem Gedankengut zuzuwenden. Doch gerade dort gäbe es eine Menge zu lernen.

In der Entwicklung und Verbreitung liberalen Gedankenguts spielten deutsche Denker keineswegs eine Nebenrolle. Wilhelm von Humboldt etwa legte in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792 den Entwurf eines liberalen Staatswesens vor, das sich vor allem darauf beschränken sollte, die innere und äußere Sicherheit zu wahren. Freiheitseinschränkungen, die anderen Zwecken dienen sollten, lehnte er ab. Mit dieser Meinung würde man Humboldt heute wohl in Anlehnung an Kurt Beck als „Neoliberalen ohne Erdung“ bezeichnen können, denn für einen Umverteilungsstaat war in Humboldts Vorstellung kein Platz.

Die deutsche Freihandelsbewegung wurde von dem Deutsch-Briten John Prince-Smith angeführt, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts mit zahlreichen Schriften, in Vereinen und schließlich auch als Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstags für die wirtschaftliche Freiheit einsetzte. Im Reichstag wurde später der Abgeordnete Eugen Richter zu einem entschiedenen Gegner von Bismarcks Schutzzollpolitik. Gleichzeitig engagierte sich Richter publizistisch und kämpfte gegen Staatseingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch gegen den erstarkenden Antisemitismus. Prince-Smith und Richter waren entschiedene Internationalisten und Liberale; heute würde man sie Globalisierungsbefürworter nennen.

Die Vorstellung, dass Liberalismus etwas ist, das den Deutschen fremd ist, ist wohl dem Sozialisten Ferdinand Lassalle zu verdanken. Er prägte für die Bestrebungen der Liberalen den Kampfbegriff des „Manchestertums“ und versuchte sie damit gleich mehrfach zu brandmarken: als Anhänger einer im Prinzip ausländischen Lehre, die deutschen Interessen schadete.

Von dieser Falschetikettierung hat sich der deutsche Liberalismus bis heute nicht befreien können. Denkt man an liberale Wirtschaftskonzepte, fallen einem britische und amerikanische Ökonomen von Adam Smith über David Ricardo bis Milton Friedman und Gary Becker ein. Bei liberalen Politikern denkt man zunächst an Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Dabei ist das Streben nach wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Freiheit nicht an ein bestimmtes Land gekoppelt, sondern eine Idee, die sich zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten immer wieder neu entwickelt hat.

Eine Rückbesinnung auf liberale Werte könnte folglich mit der Spurensuche vor der eigenen Haustür beginnen. Nicht nur für Nicolas Sarkozy, sondern auch für Angela Merkel und Kurt Beck gäbe es dort viel zu entdecken.

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