Das britische Wirtschaftswunder – Schein oder Nichtschein?
Published in Capital (Cologne), 8 November 2007, pp. 18-19
Der Diplomat denkt, er habe das große Los gezogen. Nach Stationen in Amerika, Osteuropa und im Nahen Osten ist er im Außenministerium seines mitteleuropäischen Heimatlandes beschäftigt, als sich ihm eine reizvoll erscheinende Gelegenheit bietet: Für drei Jahre könne er als Botschaftsrat nach London gehen. Die Aussicht, einmal in Europas führender Wirtschafts- und Finanzmetropole zu arbeiten, ist verlockend, und mit der Verheißung eines aufregenden Lebens zwischen Spitzenrestaurants, trendigen Klubs und renommierten Theatern kann er auch seine Familie problemlos für den Umzug in die britische Hauptstadt gewinnen. Großbritannien, so glaubt er, habe in den vergangenen Jahrzehnten eine derart beeindruckende wirtschaftliche Entwicklung erlebt, dass es sich dort eben auch gut leben lasse.
So werden viele Deutsche denken. Doch damit sind sie auf dem Holzweg. Die Erwartungen an ein modernes, prosperierendes Land kann der Inselstaat nicht erfüllen.
Schon beim Eintreffen in London wartet auf den Diplomaten die erste unangenehme Überraschung. Das Land, das sich gern als eine der ersten postmodernen Gesellschaften präsentiert, wirkt in vielem merkwürdig antiquiert. Mit der Unzuverlässigkeit und dem mangelnden Komfort der in die Jahre gekommenen U-Bahn kann sich unser Botschaftsrat gerade noch abfinden. Als die Tube dann jedoch streikt und er versucht, mit dem Auto von der Botschaft nach Hause zu fahren, benötigt er für die zehn Kilometer lange Strecke über zweieinhalb Stunden. Im allabendlichen Verkehrschaos bewegt sich nichts. Wahrscheinlich wäre es besser zu Fuß gegangen.
Aber vor allem irritiert den Neu-Londoner das Preis-Leistungs-Verhältnis auf dem Immobilienmarkt. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware. Für sein kleines, nicht unterkellertes Haus in einem Westlondoner Stadtteil zahlt er pro Monat umgerechnet 6600 Euro Miete. Ohne einen großzügigen Zuschuss des Dienstherrn könnte er sich das nie und nimmer leisten.
Gerade einmal seit sieben Wochen ist der Diplomat nun in der britischen Hauptstadt, aber seine Anfangseuphorie über den neuen Dienstort ist längst verflogen. Nirgendwo sei es bislang so anstrengend zu leben gewesen wie in London, klagt er und fragt sich, ob es wohl ein Gerücht sei, dass es der Insel seit Jahren so viel besser gehe als dem Kontinent.
Wenn man nur die zwei bekanntesten Statistiken betrachtet, nämlich das Wirtschaftswachstum und die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, dann hat sich Großbritannien in der Tat deutlich besser entwickelt als das übrige Westeuropa. Die letzte Rezession gab es nach dem Ausscheiden des Pfundes aus dem Europäischen Währungssystem 1992, aber seitdem ist die britische Wirtschaftskraft real um 49 Prozent gestiegen, in der Euro-Zone jedoch nur um ein knappes Drittel. Entsprechend niedrig ist auch die britische Arbeitslosenquote, die zurzeit etwas über fünf Prozent beträgt und somit deutlich unter den Werten Frankreichs, Italiens oder Deutschlands liegt. So gesehen ist Großbritannien ein Wirtschaftswunderland.
Aber wie der Botschaftsrat weiß, gibt es zwei Steigerungsformen der Lüge: Diplomatie und Statistik. Letztere bietet immerhin den Vorzug, dass sie sich vergleichsweise problemlos aus der Welt schaffen lässt, nämlich mit noch mehr Statistik. Je mehr Kennzahlen man also zur Verfassung der Wirtschaft auf der Insel betrachtet, desto mehr entpuppt sich das geläufige Bild vom Wirtschaftswunderland als großes Trugbild.
Am einfachsten ist die vermeintliche Tatsache zu widerlegen, in Großbritannien herrsche quasi Vollbeschäftigung. Offiziell sind zwar nur 1,7 Millionen Menschen als arbeitslos registriert; aber im Land ist es ein offenes Geheimnis, dass mindestens ebenso viele Personen in diversen Sozialtransferprogrammen geparkt sind, die somit nicht mehr in den amtlichen Statistiken auftauchen. So gesehen unterscheiden sich etwa der deutsche und der britische Arbeitsmarkt weniger, als man zunächst vermutet.
Viel gravierender ist jedoch, dass der jüngste Aufschwung vor allem auf Pump finanziert ist. Das hat viel mit dem Wohnungsmarkt zu tun, denn seit Anfang der 1990er haben sich die realen Hauspreise in Großbritannien mehr als verdoppelt, im Großraum London sogar annähernd verdreifacht. Verantwortlich dafür war vor allem die künstliche Verknappung von Bauland, gepaart mit einer wachsenden Bevölkerung und kleineren Haushaltsgrößen. Der Immobilienboom führte dazu, dass sich die britischen Privathaushalte immer mehr verschulden mussten, um überhaupt Wohneigentum erwerben zu können. Andere Haushalte wiederum begannen, einen Teil ihres Konsums über zusätzliche Hypotheken auf die in astronomische Höhen gestiegenen Werte ihrer Häuser zu finanzieren. Nach Schätzungen der Bank of England sind auf diese Weise allein seit dem Jahr 2000 mehrere Hundert Milliarden Pfund an Krediten vergeben worden.
Insgesamt sind die Briten heute nach 15 Jahren Wirtschaftswachstum so hoch verschuldet wie nie zuvor. Das werden sie spätestens dann schmerzlich merken, wenn sich der Wohnungsmarkt abkühlt. Denn dass auf den langen Immobilienboom eine Korrektur folgen wird, gilt als sicher. Dann wird sich auch zeigen, was der Aufschwung der vergangenen anderthalb Jahrzehnte wirklich wert war.
Während auf dem Kontinent Arbeitsmarktreformen stattfanden und Steuern gesenkt wurden, ruhte man sich in Großbritannien, von steigenden Immobilienpreisen in eine Wohlstandsillusion eingelullt, auf seinen scheinbaren Lorbeeren aus. Eine verpasste Gelegenheit, der die Briten noch lange nachtrauern werden. In puncto Steuer- und Abgabenbelastung sowie Regulierungsdichte sieht es auf der Insel inzwischen schlechter aus als in Deutschland, und die Staatsquote ist seit diesem Jahr auch höher. Gleichzeitig hat die Regierung es versäumt, eine Infrastruktur bereitzustellen, mit der das Land langfristig wettbewerbsfähig bleiben kann. Straßen, Schienen, Flughäfen und Krankenhäuser sind weit von internationalen Standards entfernt. Dabei ist London noch vergleichsweise gut bedient; richtig trostlos ist es in vielen alten Industriestädten des Nordens.
Nein, das ganz große Los war es dann doch nicht, das der Botschaftsrat gezogen hatte, als er sich nach London entsenden ließ. Aber zumindest in einer Hinsicht hat er Glück gehabt: In spätestens drei Jahren darf er wieder nach Hause.