Im Zweifel für die Freiheit

Published in Daniel Dettling and Christian Schüle (ed.), Minima Moralia der nächsten Gesellschaft: Standpunkte eines neuen Generationenvertrags, Wiesbaden, 2009, pp. 98-102

Für deutsche Juristen war der Fall immer schon eindeutig. Rechte haben können nur Menschen, genauer gesprochen: bereits geborene, lebende Menschen. Das Bürgerliche Gesetzbuch stellt genau dies gleich in Paragraph 1 fest: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt.” Auch der Endpunkt dieser Rechtsfähigkeit ist klar bestimmt, indem nämlich Paragraph 1922 BGB den Übergang des Vermögens auf einen oder mehrere Erben im Todesfall regelt.

Zwischen Paragraph 1 und Paragraph 1922 liegt das gesamte Leben, in dem der Mensch Kaufverträge schließen, ein Arbeitsverhältnis eingehen oder auch heiraten kann. Mit anderen Worten: zwischen Geburt und Tod kann er Rechte ausüben und Verpflichtungen eingehen. Eigentlich ist das keine besonders bahnbrechende Erkenntnis, aber deutsche Juristen mögen es eben gerne präzise. Man denke nur an die berühmte Vorschrift aus dem Bundesreisekostengesetz von 1973: „Stirbt ein Bediensteter während einer Dienstreise, so ist damit die Dienstreise beendet.”

Doch man muss kein Jurist sein, um den Sinn dieses klar umgrenzten Begriffs der Rechtsfähigkeit, also der Fähigkeit, selbstständig Träger von Rechten und Pflichten zu sein, zu verstehen. Wer noch nicht geboren ist oder bereits verstorben ist, kann keinerlei Verpflichtungen eingehen. Er kann keine Forderungen erheben; er kann keine Willenserklärungen abgeben; er kann keine vertraglichen Bindungen eingehen. Wer hingegen lebt, der kann und darf all dies tun.

Es ist diese Privatautonomie, in der sich die Würde des Menschen spiegelt, die durch das Grundgesetz besonders geschützt ist. Man könnte auch sagen, dass Rechtsfähigkeit und Privatautonomie gerade aus dieser Menschenwürde erwachsen. Denn nichts wäre des Menschen unwürdiger, als nicht selbstbestimmt seine Angelegenheiten wahrnehmen zu können. Rechtsfähigkeit und Privatautonomie sind gemeinsam der wichtigste Ausdruck der Konzeption des freiheitlichen Rechtsstaates.

So weit, so unstrittig. Doch gibt es Gedankenspiele, den Kreis der Rechtsfähigkeit weiter zu ziehen. Zukünftige Generationen oder – noch ungenauer – „die Natur” könnten ebenfalls als Rechtsträger anerkannt werden. Dies wird häufig unter Verweis auf das Konzept der so genannten Nachhaltigkeit gefordert. Zur Begründung wird dabei angeführt, dass künftige Generationen in ihren eigenen Freiheitsrechten durch heutige Handlungen eingeschränkt würden. Folglich seien bei der Nutzung heutiger Ressourcen die Interessen jener künftigen Generationen zu berücksichtigen, insbesondere wenn dies Auswirkungen auf die Umwelt (Boden, Klima, etc.) hätte.

Was sich vielleicht zunächst nach einer naheliegenden Erweiterung der Idee des freiheitlichen Rechtsstaats anhört, entpuppt sich jedoch bei genauerer Betrachtung als Perversion desselben. Die Idee der Rechte zukünftiger Generationen oder einer nicht näher bestimmten Natur ist nämlich in Wahrheit inkompatibel mit Freiheit und Privatautonomie. Damit lässt sie sich auch nicht mit dem Gedanken der Menschenwürde verbinden. Ganz davon abgesehen spricht aus ihr ein tiefes Misstrauen gegenüber der Möglichkeit von Fortschritt durch Veränderung.

Zu welch absurden Schlüssen die Idee angeblicher Rechte künftiger Generationen führt, wird bei der Lektüre der Publikationen konsequenter Verfechter dieser Forderung deutlich. Der britische „Optimum Population Trust” (OPT) ist eine solche Organisation, die seit längerem die These vertritt, dass Großbritannien übervölkert sei und im Interesse seiner künftigen Einwohner und der Umwelt schrumpfen sollte. Im Juli 2008 veröffentlichte der OPT eine Studie des amerikanischen Rechtsprofessors Carter Dillard, in der dieser fordert, das Recht sich fortzupflanzen auf ein oder maximal zwei Kinder zu beschränken. Darüber hinaus sei das Recht auf Kinder jeweils gegen das „öffentliche Interesse” abzuwägen. Dazu zählten laut Dillard auch die Auswirkungen auf die „Natur, zukünftige Generationen und nicht-menschliche Arten”.

Zwar schreckte Dillard davor zurück, aggressive rechtliche Maßnahmen gegen die Fortpflanzung zu empfehlen. Daran, dass der Gesetzgeber gegen zu viele Kinder vorzugehen habe, bestand für ihn aber kein Zweifel: „Da das Recht unser Verhalten leitet, ist eine Politik, die die Fortpflanzung als privat behandelt, regressiv, umweltschädigend und besonders asozial. Solange wir keine Maßnahmen ergreifen, welche den öffentlichen Charakter des Kinderzeugens reflektieren, werden wir nur unverantwortliche Fortpflanzung und den damit verbundenen Schaden ermutigen,” fasste er seine Studie zusammen.

Man sollte sich diese Wortwahl auf der Zunge zergehen lassen. Die Entscheidung für Kinder gehört wohl zu den persönlichsten, privatesten Entscheidungen, die man im Leben treffen kann. Doch für Dillard finden sie quasi im öffentlichen Raum statt. Da er zudem künftigen Generationen und der Natur eine Rechtsposition einräumt, werden in dieser Sicht neugeborene Kinder zu einer Art Umweltverschmutzung, die es zu begrenzen gilt.

Zweierlei ist an dieser Sicht der Dinge problematisch. Zum einen, dass eine ursprünglich allein der Privatautonomie unterliegende Entscheidung (das Kinderkriegen) quasi verstaatlicht wird. Zum anderen, dass es natürlich nicht die künftigen Generationen sind, die ihre Ansprüche anmelden (wie sollten sie auch?), sondern an ihrer statt ein heute tätiger Wissenschaftler.

Es findet damit gleichzeitig eine Entmündigung und eine Anmaßung statt. Entmündigt wird die heutige Generation, denn ihr wird eine eigene Entscheidung, ihr Leben selbstverantwortlich zu führen, abgenommen. Zweitens maßt sich derjenige, der im angeblichen Interesse künftiger Generationen Forderungen erhebt, an, für eben jene Generationen sprechen zu können.

Ein Blick in die Geschichte mag da zu etwas mehr Demut raten. Was hätte wohl ein wohlmeinender Wissenschaftler wie Professor Dillard am Ende des 19. Jahrhunderts für wichtig im 21. Jahrhundert gehalten? Dass Kohle- und Kupfervorräte nicht erschöpft würden zum Beispiel, um auch uns heute noch eine kohlebasierte Energieversorgung und Kabelverbindungen zur Kommunikation zu ermöglichen. Doch war gerade die Nutzung von Kohle und Kupfer notwendig, um uns in ein Zeitalter zu führen, in dem es heute ganz andere Möglichkeiten der Energiegewinnung und Kommunikation gibt. Selbst ein wohlmeinender Diktator wäre nicht in der Lage zu bestimmen, was für zukünftige Generationen notwendig ist.

Die Idee, die Fortpflanzung aus Rücksichtnahme für künftige Generationen und die Umwelt einzuschränken, mag ein extremes Beispiel für die Gefahren der Gewährung von Rechtspositionen an diese in Wirklichkeit aus guten Gründen nicht rechtsfähigen Figuren sein. Aber auch bei weniger extremen Fällen bedeutet die Verankerung einer Rechtsposition für „die Zukunft” oder „die Natur” eine zwingende Einschränkung der Autonomie heute Lebender, die sich den ebenfalls heute lebenden vorgeblichen Vertretern der Zukunft oder der Natur unterzuordnen hätten, seien dies Wissenschaftler, Politiker oder Bürokraten. Man mag dies mit wohlklingenden Begriffen wie Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit zu verkleistern versuchen, aber es bleibt doch eine gravierende Einschränkung der Freiheit und der Privatautonomie. Im Sinne einer auf Menschenwürde basierenden Rechtsordnung wäre dies somit nicht nur kein Fortschritt, sondern im Gegenteil ein Rückschritt.

Nachhaltigkeit, sofern sie über eine Forderung für Sonntagsreden hinausgeht und Rechtskraft erlangt, ist somit ein zutiefst freiheitsfeindliches Prinzip und kaum mit dem liberalen, die Menschenwürde schützenden Geist des Grundgesetzes vereinbar. Statt die in unserer Verfassungwirklichkeit bereits stark ausgehöhlten Prinzipien des Schutzes des Eigentums und der Privatautonomie auf diese Art zu schwächen, wäre genau das Gegenteil geboten. Was Deutschland in Zukunft braucht, ist nicht weniger, sondern mehr Privatautonomie, kein geringeres, sondern ein stärkeres Gewicht des Privateigentums.

Gerade dort, wo Eigentumsrechte klar definiert, geschützt und durchsetzbar sind, sind im Übrigen für die Natur vorteilhafte Entwicklungen zu erwarten. Man denke zum Beispiel an Fischbestände, die besonders dort gefährdet sind, wo Fischgründe nicht genau eigentumsrechtlich definiert sind. Wo hingegen Eigentumsrechte bestehen, verhindert eben dies die Überfischung. Ökonomen sind diese Zusammenhänge als Allmendeproblematik seit langem bekannt.

Wo eine auf der Grundlage von Eigentumsrechten, Wettbewerb und Vertragsfreiheit funktionierende Marktwirtschaft Wohlstand schafft, kann auch die Grundlage für den Wohlstand zukünftiger Generationen gelegt werden. In Anlehnung und Abwandlung des berühmten Diktums Adam Smiths könnte man sagen, dass wir unseren heutigen Wohlstand nicht der wohlmeinenden Sorge früherer Generationen um uns verdanken, sondern ihrem Einsatz für ihren eigenen Fortschritt.

Das ethische Fundament der Bundesrepublik liegt in den Ideen von Menschenwürde und Freiheit begründet. Statt uns daher der freiheitfeindlichen Illusion einer staatlich administrierten Nachhaltigkeit hinzugeben, sollten wir besser in unserer Zeit die Idee einer Verfassung der Freiheit neu denken.

Mag es auch wie ein Paradox erscheinen: Gerade die stete Sorge um das zarte Pflänzchen der Freiheit ist die beste Voraussetzung dafür, dass zukünftige Generationen in Freiheit und Wohlstand leben können. In diesem Sinne ist das Prinzip der Freiheit der beste Garant für eine im Wortsinne nachhaltige (aber nicht justiziable) Entwicklung.

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