Der schwarze Schwan des Multikulturalismus

Published in Neue Zürcher Zeitung (Zurich), 28 March 2011 (PDF)
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/der_schwarze_schwan_des_multikulturalismus_1.10050996.html

Warum Australien mit einem mittlerweile vielerorts umstrittenen Konzept keine Probleme hat

Die lange hochgehaltene Idee des Multikulturalismus gerät in Europa zunehmend in die Kritik, während in Australien die ethnische Diversität kaum Probleme bereitet. Was hat man auf dem fünften Kontinent besser gemacht?

Vor langer Zeit galt es in Europa als sicher, dass nur weisse Schwäne existieren, bis eine niederländische Expedition im späten 17. Jahrhundert den schwarzen Trauerschwan in Westaustralien entdeckte. Ebenso konnte man sich so etwas wie eierlegende Säugetiere nicht vorstellen. Doch auch dieses Vorurteil musste nach einer Australienreise revidiert werden. Ameisenigel und Schnabeltier kümmerte es nämlich wenig, dass es sie nach Meinung der damaligen Wissenschaft eigentlich gar nicht geben durfte.

Australien war immer schon etwas anders. Auch gesellschaftlich unterscheidet sich das heutige Australien deutlich von Europa, dem «Mutterkontinent» der einstigen britischen Kolonie. Am deutlichsten wird die Andersartigkeit Australiens beim Multikulturalismus, denn in Australien gilt er nach wie vor als Erfolgsmodell. Dabei ist «Multikulti» gerade erst in Europa von Politikern wie David Cameron und Angela Merkel für gescheitert erklärt worden.

Gleiche Rechte

In Europa undenkbar, in Australien Normalität: Warum funktioniert die multikulturelle Einwanderungsgesellschaft auf dem fünften Kontinent, wo dies doch aus europäischer Sicht heute so unwahrscheinlich erscheint wie ehedem ein schwarzer Schwan? Dafür gibt es vor allem drei Gründe.

Der erste Grund für den Erfolg des australischen Multikulturalismus ist seine lange Geschichte. Zwar verfolgte Australien bis in die 1970er Jahre eine rassistische Einwanderungspolitik, die «White Australia Policy». Bis zum Zweiten Weltkrieg kamen praktisch nur britische, danach auch andere weisse Europäer nach Australien. Aber selbst unter diesen Einwanderern gab es grosse ethnische und religiöse Konflikte, die in Australien jedoch erstaunlich gut entschärft wurden.

Die australische Bevölkerung des 19. Jahrhunderts bestand im Wesentlichen aus Engländern, Schotten und Iren. Obgleich sie aus demselben Staat kamen, mangelte es nicht an Spannungen zwischen ihnen. Insbesondere die katholischen Iren waren eine Bevölkerungsgruppe, die sich aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit von den anderen Einwohnern und der Kolonialverwaltung klar unterschied. Dass diese Differenzen nicht in Segregation oder gar Gewalt mündeten, lag an der Art der Integration der irischen Katholiken. Ihnen wurden gleiche Rechte eingeräumt; die katholische Kirche genoss in Australien denselben offiziellen Status wie die Church of England und die Church of Scotland. Im viktorianischen Grossbritannien wäre dies undenkbar gewesen. In Australien war es jedoch die einzige Möglichkeit, den Aufbau des Landes voranzutreiben, ohne ihn durch ethnisch-religiöse Konflikte zu gefährden.

«New Australians»

Wie der australische Historiker John Hirst argumentiert, entwickelte sich daraus ein Grundpfeiler australischer Integrationspolitik: «Es ist der Glaube daran, dass es keine bitteren Trennungen zwischen den Leuten geben soll; dass dies nur dann ein neues und besseres Land sein kann, wenn die Spannungen der Alten Welt aussen vor gelassen werden.» Zwar ist es durchaus akzeptiert und nicht unüblich, seine kulturelle Herkunft zu pflegen. Verpönt ist es nur, sie wie eine Monstranz vor sich herzutragen oder gar daraus Sonderrechte abzuleiten.

Der zweite Grund für den funktionierenden Multikulturalismus liegt in der Aufnahmebereitschaft der einheimischen Bevölkerung, die sich auf eine gewachsene Integrationserfahrung stützt. Als nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von Europäern nach Australien auswanderten, wurden sie von der australischen Regierung als «New Australians» willkommen geheissen. Der Kontrast etwa zu Deutschland könnte nicht grösser sein. Die Italiener, Spanier und Türken, die nach Westdeutschland emigrierten, waren nicht «Neue Deutsche», sondern Gastarbeiter. Sie sollten sich explizit nicht in die Gesellschaft einfügen, sondern nach getaner Arbeit möglichst bald wieder in ihre Heimatländer zurückkehren.

Keine ethnischen Enklaven

Es mag auch der grossen Entfernung geschuldet sein, dass die Erwartung in Australien eine ganz andere war. Wer einmal legal nach Australien eingewandert war, der sollte auch ein Teil von Australien werden. Das war sowohl die offizielle Regierungspolitik als auch die Erwartung der Bevölkerung, die von den Einwanderern wiederum erfüllt wurde. Dafür spricht zum Beispiel, dass Mischehen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen die Regel, nicht die Ausnahme sind. Auch kann man feststellen, dass sich die trennenden Merkmale mit der Zeit verwischen. Von den griechischen Einwanderern waren ursprünglich 90 Prozent griechisch-orthodox. In der zweiten Generation der Griechen in Australien waren es nur noch 82 Prozent, in der dritten gar nur 45 Prozent.

So lösten sich auch ethnische Enklaven auf, die es bei Einwanderern der ersten Generation durchaus gegeben hatte. Deren Kinder lebten dann aber ebenso in den Vorstädten wie die Kinder gebürtiger Australier auch. Dass sich bereits in der zweiten Generation Englisch als Verkehrssprache durchgesetzt hatte, trug dazu entscheidend bei.

Der dritte Grund für Australiens gelungene Integration betrifft dann vor allem die Einwanderer, die nach Ende der «White Australia Policy» ins Land strömten. Für diese Zuwanderer wurden klare Anforderungen formuliert. Sprachkenntnisse waren unabdingbar, schulische und berufliche Qualifikationen verbesserten die Chancen auf eine Aufenthaltserlaubnis. Auf diese Weise suchte sich Australien gezielt Einwanderer mit Erfolgspotenzial aus. Dass diese Einwanderer heute geringere Kriminalitätsraten aufweisen als die autochthone Bevölkerung; dass sie auf dem Arbeitsmarkt bessere Ergebnisse erreichen und auch ihre Kinder bessere Bildungserfolge erzielen als gebürtige Australier, ist kein Zufall. Es wurden ja genau solche Leute ins Land geholt, bei denen eben diese Resultate zu erwarten waren.

Australien hatte sich aus dem Pool der weltweit Wanderungswilligen quasi die Rosinen herausgepickt. Wer als potenzieller Migrant hingegen vor allem an der Wanderung in ein Sozialsystem interessiert war, der ging eher nicht nach Australien, sondern nach Europa. Die jüngsten asiatischen Einwanderergruppen in Australien haben sich einen Namen für ihren Willen zum sozialen Aufstieg gemacht, was von vielen Migranten in Deutschland, die sich im Auffangnetz des Sozialstaats recht gut arrangieren, leider nicht behauptet werden kann.

Viele Ethnien, eine Kultur

Die drei Gründe – Quarantäne von Differenzen, beiderseitige Integrationsbereitschaft und gezielte Auswahl von Migranten – erklären den Erfolg des australischen Multikulturalismus. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der Begriff glücklich gewählt ist. Denn es handelt sich eigentlich um einen Multi-Ethnizismus. Die australische Kultur soll sich durch die Zuwanderung gerade nicht ändern. Der sozialdemokratische Einwanderungsminister Chris Bowen erklärte jüngst, dass im Zweifelsfall die australischen Werte obsiegen, die jeder Einwanderer zu unterschreiben hat. In Australien müsste Multikulti daher eigentlich Multi-Ethno heissen.

So wundert man sich in Australien über die europäische Multikulturalismus-Debatte, weil Australier unter dem Begriff etwas ganz anderes verstehen. Aus australischer Sicht sind eben alle schönen Schwäne schwarz.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Research Fellow am Centre for Independent Studies in Sydney, Australiens grösstem unabhängigem Think-Tank (www.cis.org.au).