Ferne Nachbarn

Published in Neue Zürcher Zeitung (Zurich), 6 October 2012
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/ferne-nachbarn-1.17666853

Was Australien und Neuseeland verbindet – und was sie trennt. Von Oliver Marc Hartwich

Neuseeland und Australien, das ist eine Geschichte von zwei ungleichen Brüdern. Als ehemalige britische Kolonien in der geografischen Isolation des Südpazifik – so könnte man annehmen – müsste sie das gemeinsame Schicksal zusammengeschweisst haben. Tatsächlich jedoch sind beide Länder damit ganz unterschiedlich umgegangen. Während sich Neuseeland immer noch britisch gibt, haben sich die Australier eher an Amerika ausgerichtet. Und das sind nicht die einzigen Unterschiede.

Dabei sollte es Neuseeland als eigenständiges Land eigentlich gar nicht geben, zumindest wenn es nach den Verfassungsvätern Australiens gegangen wäre. Als sich die britischen Kolonien Australiens im Jahr 1901 zum australischen Bund zusammenschlossen, da schrieben sie in ihre Verfassung einen Passus, der es Neuseeland jederzeit ermöglicht, dem australischen Bund beizutreten. Dort steht der Passus bis heute. In der Zwischenzeit haben sich Australien und Neuseeland jedoch derart auseinandergelebt, dass an eine Wiedervereinigung der beiden Länder (Neuseeland wurde Anfang des 19. Jahrhunderts für kurze Zeit von Sydney aus verwaltet) niemand glaubt. Und wenn doch, dann dürfte sie nur mittelbar und ironischerweise auf australischem Boden stattfinden.

Seit Jahrzehnten verliert das kleine Neuseeland nämlich jedes Jahr zwischen dreissig- und vierzigtausend seiner Bewohner an den westlichen Nachbarn – bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 4,5 Millionen eine beachtliche Zahl. Laut Schätzungen leben in Australien mittlerweile über eine halbe Million Neuseeländer und damit mehr als in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington.

Die Gründe für den Massenexodus der «Kiwis» sind vielfältig. Zum einen haben Neuseeländer als einzige Nation ein unbedingtes Aufenthaltsrecht in Australien (und umgekehrt). Zum anderen hat sich Australien, nicht zuletzt dank dem Rohstoffboom, wirtschaftlich besser entwickelt als Neuseeland. Die australischen Löhne sind fast ein Drittel höher als auf der anderen Seite der Tasmansee; die Preise allerdings auch – aber das merken die Kiwis erst, wenn sie in Australien angekommen sind. Und so strömen, angelockt von angeblich besseren Berufsperspektiven und einem vermeintlich aufregenderen Lebensstil, gerade junge und gut ausgebildete Neuseeländer in grosser Zahl nach Australien. Was viele von ihnen dabei erleben, ist ein kleiner Kulturschock. Sollten sie nämlich davon ausgegangen sein, dass sich die Länder ähneln, werden sie schnell eines Besseren belehrt. Es sind kleine, feine Differenzen, doch derer gibt es viele.

Das fängt beim Dialekt an. Das australische Englisch klingt nach Busch und Outback, es wird genuschelt und nach Herzenslust vereinfacht, bis aus einem «breakfast» ein «brekkie» und aus dem «mosquito» ein «mozzie» wird. In Neuseeland findet so etwas weniger statt. Stattdessen klingt das dortige Englisch nach Grossbritannien, wenn man einmal davon absieht, dass sich die Vokale merkwürdig verschoben haben. Dass in Neuseeland «ten» und «tin» fast gleich ausgesprochen werden, hat schon manchen Besucher verwirrt. Auch dürften sich die Kiwis darüber wundern, warum es in Australien keine Guy Fawkes Night gibt. Die britische Tradition, zum Jahrestag des gescheiterten Anschlags auf das englische Parlament im Jahre 1605 Feuerwerke abzuhalten, wird in Neuseeland bis heute gepflegt, in Australien kennt man sie hingegen nicht (mehr). Dafür veranstalten die Australier die opulentesten Silvesterfeuerwerke der Welt, insbesondere in Sydney. In Neuseeland wird der Jahreswechsel traditionell eher britisch und ruhig begangen – und in der Regel ohne Feuerwerk.

Der Hauptunterschied zwischen Neuseeländern und Australiern dürfte jedoch im Ausmass der Förmlichkeit liegen. In Australien trägt man auch bei festlichen Anlässen selten Smoking und Fliege. Selbst Krawatten gelten teilweise als vorzeitliches Relikt, und man scheut sich auch nicht, Anzüge mit den typisch australischen Buschstiefeln der Marke R. M. Williams zu kombinieren. Unter dem Gesichtspunkt der Mode sicherlich eine Todsünde, die aber das legere Selbstverständnis der Australier zum Ausdruck bringt. Ganz anders in Neuseeland. Dort wird das britische «black tie dinner» als gesellschaftliche Institution gepflegt, auch einen Toast auf Ihre Majestät, die Queen, wird man bei solchen Anlässen häufiger hören als in Australien. Man ist förmlicher, höflicher und gewiss auch eine Spur komplizierter als die Australier.

Vielleicht ist ein Teil des Unterschiedes dem Wetter geschuldet. Neuseeland ist deutlich kälter und regnerischer als Australien. Allein daher fühlt es sich mehr nach Grossbritannien an. Wenn man an einem Winterabend durch das nasskalte Dunedin auf der Südinsel geht, wähnt man sich eher in Glasgow oder Edinburgh denn im Südpazifik.

Ein anderer Grund ist die unterschiedliche Grösse der beiden Länder. Neuseeland ist nicht so klein, dass jeder jeden kennt. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass man in Wellington oder Auckland gemeinsame Bekannte hat, ist höher als in Sydney oder Melbourne. Wenn zu befürchten steht, dass man sich auf seiner kleinen Insel bald wiederbegegnet, fährt man mit britischer Höflichkeit und Zurückhaltung im Zweifelsfall besser. Für die Australier besteht in ihrem Riesenland dazu keine Veranlassung – und dementsprechend benehmen sie sich auch.

Es ist erstaunlich, wie zwei Länder, die fast zur gleichen Zeit und fast am gleichen Ort von Briten kolonisiert wurden, so verschieden werden konnten – noch dazu in so kurzer Zeit. Lebens- und liebenswert sind sie aber beide – auch wenn eingefleischte Kiwis und Aussies, in freundschaftlicher Animosität miteinander verbunden, das wohl nie zugeben würden.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Geschäftsführer der Wellingtoner Denkfabrik «The New Zealand Initiative» und lebte zuvor in Sydney und London.

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