Ihr habt ja alle keine Ahnung

Published in Die Welt, 07 March 2007, p. 9
http://www.welt.de/welt_print/article749621/Ihr_habt_ja_alle_keine_Ahnung.html

In der Debattenkultur grassiert die Lust am Minderheitenstatus: Jeder fühlt sich allein und unverstanden. Ein vernünftiger Disput wird unmöglich.

Man kennt das Gefühl bei der Lektüre von Zeitungskommentaren, beim Gespräch oder auch beim Zappen durch Talkshows: Kaum einmal findet man jemanden, mit dem man einer Meinung wäre. Schlimmer noch, in aller Regel verfestigt sich der Eindruck, man selbst sei einer der letzten Vertreter der kleinen, aber wissenden Minderheit, ein einsamer Robinson Crusoe im Meer der Unaufgeklärten, Uninformierten, Uninteressierten – und nicht einmal ein Freitag ist in Sicht, der einem zumindest zuhören würde.

Man sieht sich gefangen in einer trägen Masse von Menschen, deren einzige Daseinsberechtigung die Bestätigung der eigenen Demokratieskepsis zu sein scheint. Allein man selbst, so denkt man – nein: so ist man sicher -, hat den Überblick noch nicht völlig verloren, kann das Große und Ganze noch überschauen. Und wenn die Welt nur ein bisschen mehr so wäre wie man selbst oder wenn man denn nur gelegentlich um Rat gebeten würde, dann würde vielleicht nicht sofort alles gut, aber doch vieles schließlich besser.

Haben Sie sich in dieser Beschreibung schon wiedergefunden? Gehören sie auch zu jener kleinen Gruppe frustrierter und verhinderter Weltverbesserer? Ja? Dann herzlichen Glückwunsch, denn damit sind Sie ein Teil der Mehrheit, stehen in der Mitte der Gesellschaft, die Sie so in die Verzweiflung treibt. Das Minderheitsgefühl ist mehrheitsfähig geworden, und zwar unabhängig vom jeweiligen Standpunkt. Man darf sich heutzutage als Linker wie als Rechter, als Gewerkschafter wie als Kapitalist, als Christ wie als Atheist unverstanden und marginalisiert fühlen.

Wenn Gewerkschafter die Macht des Kapitals beklagen, gegen Heuschrecken zu Felde ziehen und am neoliberalen Zeitgeist verzweifeln, dann gerieren sie sich wie die letzten aufrechten Kämpfer für das Soziale. Um sie herum nehmen sie hingegen eine Welt wahr, in der das anonyme Marktprinzip regiert. Sie verurteilen Sozialabbau und Privatisierung und sind von alten Verbündeten in den Parteien enttäuscht. Die traditionellen Forderungen der Gewerkschaften, denken sie, haben in der Globalisierung keine Chance mehr.

Doch Liberale leiden zumindest ebenso. Wo der Gewerkschafter den kalten Atem des Marktes zu spüren glaubt, verzweifelt der Liberale an der von ihm diagnostizierten verbreiteten Staatsgläubigkeit. Dabei sind die wahrgenommenen Probleme zumindest teilweise identisch: Wo der Linke hemmungsloses Profitstreben, Rationalisierung und Shareholder-Value-Maximierung als Ursachen der Massenarbeitslosigkeit vermutet, verortet der Liberale die Gründe in unflexiblen Arbeitsmärkten, fehlenden Arbeitsanreizen oder einer erdrückenden Last von Bürokratie und Steuern. Natürlich fühlt sich auch der Liberale von der Politik im Stich gelassen; die Bereitschaft zu grundlegenden Reformen, die er für notwendig hält, kann er jedenfalls nirgends erkennen.

Ein anderes Beispiel: Wer vom menschengemachten gefährlichen Klimawandel überzeugt ist und glaubt, dass die einzige Möglichkeit zur Rettung des Planeten darin besteht, radikale Maßnahmen zu ergreifen, der muss die bislang erzielten Ergebnisse bei der Reduzierung der Treibhausgasemissionen für vollkommen unbefriedigend halten. Hegt man hingegen Zweifel am Sinn massiver Kohlendioxideinsparungen, denkt man gar, dass die wissenschaftliche Debatte um die Erderwärmung noch nicht endgültig entschieden ist, dann wird man sich kaum besser verstanden fühlen, ganz im Gegenteil: Umweltregulierungen, Ökosteuern und die Fokussierung der Medien auf das Thema scheinen doch der beste Beweis dafür zu sein, dass die Gegenseite die Diskussion bereits gewonnen hat – auch wenn sie selbst es nicht glaubt.

Oder: Wer gläubig ist, verzweifelt an der Säkularisierung, bedauert das Kruzifixurteil und den abnehmenden Besuch der Gottesdienste. Dafür beklagen jene, die nie einen Gottesdienst besuchen würden, den Einfluss der Kirche in Staat und Politik, etwa die Privilegierung der Kirchen beim Eintreiben der Kirchensteuer.

Die Beispiele verdeutlichen, dass wir heute in einer Gesellschaft von Gruppen leben, die nicht nur unterschiedliche Sichtweisen gegenüber der Welt pflegen, sondern sich dabei jeweils auch noch als unverstandene Minderheit empfinden. Diese Minderheitsgefühle sind derart konträr zueinander, dass sie nicht logisch miteinander zu vereinbaren sind. Ein gesellschaftlicher Konsens, so es ihn denn jemals gegeben hat, ist nicht mehr auszumachen. Es ist auch nicht ersichtlich, ob er zwingend notwendig für das Zusammenleben ist. Dennoch sollte es eine Brücke zwischen den gesellschaftlichen Meinungslinien geben, damit zumindest ein Dialog stattfinden kann.

Doch was könnte solch eine Brücke sein? Ist es etwa der Rekurs auf eine rein theoretische Ebene, die einen Austausch über gesellschaftliche Probleme ermöglicht? Wohl kaum, denn genau daran scheitert regelmäßig die Verständigung zwischen den Gruppen, und zwar oft bereits an der fehlenden Übereinstimmung hinsichtlich der anzuwendenden Methodik. Ein aktuelles Beispiel ist der Streit der Ökonomen über die Bewertung des Klimawandelberichts von Sir Nicholas Stern, der sich um die sehr technische Frage der Diskontierung zukünftiger Kosten dreht – ein theoretischer Disput mit gravierenden praktischen Konsequenzen.

Kann die Empirie einen konstruktiven Dialog in Gang setzen? Bedauerlicherweise stehen die Chancen für die reine Empirie auch nicht besser. Zwar ist der Nutzen einer faktischen Überprüfung aufgestellter Behauptungen nicht zu leugnen, aber man wird zugeben müssen, dass Daten oft selektiv verwandt werden – wohl auch, um Widersprüche zwischen verschiedenen Beobachtungen nicht allzu offensichtlich werden zu lassen. Daten bedürfen darüber hinaus stets der Interpretation, und diese kann, wie das Beispiel der Arbeitslosigkeit zeigt, sehr unterschiedlich ausfallen.

So bleibt als letzte Chance für einen wirklichen Dialog über die gesellschaftlichen Fragen der Zeit eigentlich nur der Rückgriff auf ein ganz und gar altmodisches Konzept, das uns leider abhanden gekommen zu sein scheint. Die Rede ist von der Vernunft. Woran es in den meisten Diskussionen mangelt, ist die Bereitschaft der jeweiligen Teilnehmer, vorurteilsfrei und vernünftig miteinander Ideen auszutauschen. Stattdessen ersetzen Emotionen Argumente, und Ideologie verdunkelt die Fakten. Niemand sollte sich für frei davon halten.

Dies erklärt, warum gesellschaftliche Gruppen so selten in der Lage sind, sich aus ihrer Abwehrhaltung der bedrängten Minderheit zu lösen und in einen konstruktiven Dialog einzutreten. Es fehlt an der Bereitschaft (und vielleicht der Fähigkeit), mit Fakten untermauerte Argumente vorzutragen und sich mit vernünftigen Argumenten der Gegenseite auseinanderzusetzen, sie zumindest zur Kenntnis zur nehmen. Wir haben es verlernt, informierte und vernünftige Debatten zu führen. Und so begnügen wir uns zu oft mit dem Verharren in der rechthaberischen Pose des einsamen Rufers in der Wüste. Dabei wäre es Zeit zu erkennen, dass diese Haltung nicht nur unvernünftig, sondern angesichts unbestreitbarer Herausforderungen auch unverantwortlich ist.

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